Ein freundschaftliches Streitgespräch: dm-Gründer Götz Werner und Gemeinwohlökonom Christian Felber über Banken ohne Zinsen, fairen Freihandel – und die Frage, was Dinosaurier mit unserer Wirtschaftsordnung zu tun haben.
Herr Werner, Ihr großes Thema ist der Bewusstseinswandel, die Arbeit des Einzelnen an sich selbst. Was könnte das für Wirkungen auf die Wirtschaft haben?
Werner: Es geht darum, dass wir mehr Bewusstsein dafür entwickeln, was wesentlich ist – dass wir uns nicht von Blendgranaten ablenken lassen. Der erste Schritt und auch die Wirkung wäre: Die Leute fragen nicht mehr nach dem „Know-how“, sondern nach dem „Know-why“, nach dem „Warum und „Wozu?“.
Stellen Sie sich vor: Ein Bildzeitungsredakteur läuft mit seiner achtjährigen Tochter am Kiosk vorbei – und beginnt sich zu fragen, warum er so reißerische Schlagzeilen produziert. Dann geht es ihm nicht mehr um die Frage, wie viel Rendite seine Zeitung bringt, und ob er dabei ordentlich verdient. Er stellt die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit.
Diese Position zielt auf die Verantwortung des Individuums. Herr Felber, Ihr Ansatz ist etwas anders: Sie wollen Gemeinwohlbilanzen für Unternehmen einführen. Warum?
Felber: Unser Ansatz steht nicht im Gegensatz zu Ihren Gedanken, Herr Werner, die auf der individualethischen Ebene anzusiedeln sind. Dieses freiwillige Verhalten sollte durch einen passenden Rechtsrahmen unterstützt werden, der auf der sozialethischen, will heißen rechtsstaatlichen Ebene greift. Das ist die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie.
Wie kann ein Rechtsrahmen so gestaltet sein, dass ethisches Handeln belohnt wird?
Felber: Unternehmen legen nicht nur eine Finanzbilanz vor, sondern auch eine Gemeinwohl-Bilanz, die den Zielbeitrag misst.
Werner: Oder anders ausgedrückt: Heute zeigen Bilanzen nur, was finanziell bewirkt wurde. Die Frage ist aber, welche Folgen sind dadurch eingetreten?
Felber: Wir schauen uns deshalb an, wie ethisch sich ein Unternehmen verhält. Leistet es einen Beitrag zur Erfüllung unserer Verfassungswerte Menschenwürde, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Solidarität, Demokratie – und damit auch zum Gemeinwohl? Je besser diese ethische Bilanz ausfällt, desto günstiger sind die Rückwirkungen auf die Finanzbilanz.
Es geht dabei um geringere Steuern oder Zölle?
Werner: Vor allem darum, dass mehr Kunden bei einem Unternehmen einkaufen! Denn Menschen machen ihre Einkäufe lieber bei Unternehmen, die ethisch handeln. Zu diesem Ergebnis kommen Kundenbefragungen.
Felber: Natürlich kommen auch mehr Kunden, es interessieren sich mehr Menschen für einen Arbeitsplatz in solchen Unternehmen, und die Medien werden aufmerksam. Doch den entscheidenden Schliff setzt der Gesetzgeber. Unsere Pioniere erstellen die Gemeinwohlbilanzen zunächst freiwillig. In der Phase B sollen dann die rechtlichen Anreizinstrumente greifen, z. B. eine Bevorzugung bei öffentlichen Aufträgen oder niedrigere Steuern und Zölle.
Werner: Rückwirkungen gesellschaftlicher Wertschätzung erlebe ich immer wieder. Wenn beispielsweise ein Bürgermeister sagt, dass er in einem leerstehenden Gebäude seiner Gemeinde am liebsten einen „dm-Markt“ hätte.
Felber: Das lässt sich systematisieren, im gesamten öffentlichen Einkauf. Dann bleiben ethische Unternehmen am Markt, weil nur sie erfolgreich bilanzieren können. Je unethischer ein Unternehmen handelt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in Konkurs geht.
Schöne Idee, doch die ökonomische Kritik könnte lauten: Wer nicht die gewünschten Renditen erwirtschaftet, ist im internationalen Wettbewerb schnell weg vom Fenster.
Werner: Es ist umgekehrt: Sie gewinnen an Wettbewerbsfähigkeit; Ihr Geschäft wird besser laufen.
Wenn Sie nicht mehr auf Aktionäre oder Investoren schauen, die eine gewisse Rendite erwarten?
Werner: Wenn ich meine Kunden zufrieden stelle. Die Orientierung an Renditen ist ein Denkirrtum. Unternehmen haben Erfolg, weil sie ihre Kunden im Blick haben und besser bedienen – und nicht, weil sie Renditen in den Vordergrund stellen. Wer nach dem Warum und Wozu fragt, der erkennt, dass alles, was wir tun, den Menschen zum Ziel hat.
Felber: Sie sprechen von exzellenten Unternehmen, Herr Werner. Es ist aber nicht möglich, einem durchschnittlichen Unternehmen zu empfehlen, exzellent zu werden. Es hat nämlich den Nachteil, von weniger ethischen Unternehmen im Preis unterboten zu werden. Daher lautet unsere Schlussfolgerung: Die von den unethischen Unternehmen angerichteten, sozialen und ökologischen Kosten müssen ihnen über die Gemeinwohl-Bilanz angelastet werden, dann werden ihre Produkte teurer und die ethischen billiger. Die internationale Freihandelsordnung bewirkt genau das Gegenteil und ist deshalb „pervers“, was „verkehrt“ bedeutet. Die Gemeinwohl-Ökonomie rückt diese Perversion zurecht.
Wie soll das gehen?
Felber: Eine ethische Handelsordnung würde zur Folge haben, dass nachhaltige und verantwortliche Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil erhalten. Solange es keine globale Einigung in der UNO gibt, könnte die EU ihren Binnenmarkt problemlos schützen. Je ethischer Import-Firmen handeln, desto geringere Zölle müssen sie zahlen. Freihandel nur für die Fairsten! Und die Eintrittsbarrieren werden für unethische Unternehmen immer höher.
Das wäre ein interessanter Punkt für die laufenden TTIP-Verhandlungen.
Werner: Ein Unternehmer wartet nicht, bis andere etwas verändern, er geht vom Gegebenen aus, greift es auf und verwandelt es. Eine Arbeitsgemeinschaft muss sich in jedem Augenblick anstrengen, seine Kunden exzellent zu bedienen, um ein hohes Maß an Wertschätzung zu erfahren. Das versetzt das Unternehmen in die Lage, produktiver und wettbewerbsfähiger zu sein.
Felber: Das gelingt aber nicht allen Unternehmen. Nehmen wir als Beispiel eine spanische Firma, die seit 50 Jahren Produkte wie Schuhe anbietet, und das in einer hohen handwerklichen Qualität. Der Betrieb verwendet sogar Leder aus lokaler Produktion, von Tieren, die vor Ort geschlachtet werden.
Jetzt kommt ein neues Unternehmen auf den Markt, das unethisch handelt, wodurch seine Preise um 60 Prozent niedriger sind. Die Folge: Beim ethischen Unternehmen rasselt der Umsatz in den Keller, Kündigungen stehen an, die Insolvenz droht. Das Beispiel zeigt, Herr Werner, dass nicht alle Unternehmen schaffen, was Sie mit Ihrer Drogerie-Kette erreicht haben.
Werner: Die Kunst ist es, die Balance zwischen sich widersprechenden Polen zu finden. Wenn Kunden auf den Preis schauen, dann muss ein Unternehmen hier mithalten und trotzdem auch sinnvolle Alternativen anbieten.
Die von den unethischen Unternehmen angerichteten, sozialen und ökologischen Kosten müssen ihnen über die Gemeinwohl-Bilanz angelastet werden, dann werden ihre Produkte teurer und die ethischen billiger. Die internationale Freihandelsordnung bewirkt genau das Gegenteil und ist deshalb „pervers“, was „verkehrt“ bedeutet. Die Gemeinwohl-Ökonomie rückt diese Perversion zurecht.
Christian Felber, Gemeinwohlökonom
Das Beispiel macht auch deutlich, wie Konkurrenz im Kapitalismus funktioniert. Größere Unternehmen können billiger produzieren und verdrängen kleinere Anbieter vom Markt oder schlucken sie einfach. Wie lässt sich dieses Kernproblem lösen, was ja auch zum Wachstumszwang in der gegenwärtigen Ökonomie führt?
Werner: Wenn Unternehmen immer größer werden, ist das aber auch ein Weg zur „Hypertrophie“, zur Überfunktion bis hin zur Wucherung, was Unternehmen umbringen kann. Ihre Komplexität wird zu groß. Unternehmen wachsen sich zu Tode. Die Pleite der Firma „Schlecker“ ist ein Beispiel.
Felber: Solche Fälle sind die logische Konsequenz der heutigen Erfolgsdynamik, weil Unternehmen mit höherem Finanzgewinn einerseits ihre Anleger besser zufrieden stellen und andererseits mit dem Gewinn andere Firmen fressen können und dürfen.
Wir brauchen eine andere Erfolgsdynamik: Ein Unternehmer kann nur noch finanziell erfolgreich sein, wenn er sich rund um ethisch verhält. Das ist aber ab einer bestimmten Größe nicht mehr möglich, so dass ein ethisches Unternehmen nicht unbeschränkt wachsen kann. Auf diese Weise findet es seine „optimale Größe“ – das ist das Ziel!
Auch Bäume wachsen nicht in den Himmel.
Felber: Ja, das kennen wir aus der Natur. Jeder natürliche Organismus wächst nur bis zu einer bestimmten Größe. Und an der Geschichte der Evolution lässt sich ablesen: Der angebliche Kampf ums Dasein hat zu einer wachsenden Vielfalt geführt – und niemals zu immer größeren Einzelexemplaren. Im Gegenteil, die Größten sind zwischendurch wieder ausgestorben …
… wie die berühmten Dinosaurier.
Felber: Richtig, das ist eine schöne Analogie. Unternehmensfreiheit mit Ethik-Anreizen gekoppelt schafft größere Vielfalt auf den Märkten. Es kommt zu einer stärkeren Spezialisierung, aber nicht zu größeren Unternehmen.
Unternehmen sollen ethisch handeln. Aber mit dem „homo oeconomicus“, wird an der Universität ein ganz anderes Menschenbild gelehrt: Dieser Mensch handelt völlig rational, ist über alle Alternativen informiert und orientiert sich nur an seinen egoistischen Präferenzen. So maximiert er seinen Nutzen oder Profit, und das seit vielen Jahrzehnten.
Felber: Der „homo oeconomicus“ ist ein Irrtum der geistigen Evolution und wird auch bald wieder sterben.
Aber der „homo oeconomicus“ beherrscht heute das Denken vieler Menschen. Nach dem Motto: Wir sind einfach Egoisten, und das in alle Ewigkeit. Was wollen Sie da mit Ihren Ideen erreichen?
Werner: Ein Umdenken. Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist nicht vereinbar mit dem Menschenbild des „homo oeconomicus“. Wenn Menschen tatsächlich nur nutzenorientiert wären, würden viele heute schon weniger arbeiten oder ganz aufhören. Das ist nicht beobachtbar. Was jedoch jeder beobachten kann: Menschen wollen arbeiten, wollen sich einbringen. Wer sich den Menschen als „homo oeconomicus“ vorstellt, ist nicht wegen, sondern trotz dieser Vorstellungen erfolgreich.
Trotzdem erfolgreich?
Werner: Auch ein Unternehmer, der wie ein „homo oeconomicus“ denkt, muss letztlich Waren oder Dienstleistungen anbieten, die für andere Menschen attraktiv sind. Jeder Anbieter, der sich nur an seinen Bedürfnissen orientiert, ist zum Scheitern verurteilt. Um die Bedürfnisse seiner Mitmenschen wahrnehmen und erkennen zu können, braucht es mindestens Menscheninteresse, besser ist echte Anteilnahme, der Idealfall ist Liebe. Liebe macht sehend für die Bedürfnisse des anderen.
Felber: Hier wird ein wissenschaftliches Menschenbild an ein sinnloses Wirtschaftssystem angepasst. Dabei kommt es zur umfassenden Kastration des Menschen, der eigentlich ein Sinn- und Vernunftwesen ist; ein emotionales, geistiges und spirituelles Wesen. Der Mensch hat so viele Eigenschaften, dass jeder „homo irgendwas“ immer eine Verkürzung seiner Qualitäten darstellt.
Werner: Warum wird am Menschenbild des „homo oeconomicus“ überhaupt festgehalten? Ganz einfach: Die Wirtschaftswissenschaften haben sich mathematisiert – und mathematische Modelle brauchen einen solchen Angelpunkt wie den “homo oeconomicus“, weil sie sonst nicht funktionieren. Wenn Sie dieses Menschenbild nicht haben, können Sie keine Mathematik anwenden, was Ökonomen so gerne machen.
Felber: Der Mensch wird einfach an die gegenwärtige Wirtschaftsordnung angepasst, anstatt umgekehrt.
Neues Thema. Etwas salopp sagen Sie, Herr Felber, die erste Million soll die leichteste sein. Was meinen Sie damit?
Felber: Diese Aussage ist ein Baustein von etwa 20 Grundelementen einer alternativen Wirtschaftsordnung. Arbeitsleistung soll tatsächlich belohnt werden; Einkommen aus Arbeit muss leichter zum Erwerb eines Vermögens führen als Einkommen aus Geldkapital. Und die Steuern sollten am Beginn niedriger sein, nicht nur bei Einkommen, sondern auch bei Vermögen – um später anzusteigen. Kurz: Wer tatsächlich etwas leistet und noch wenig hat, soll schneller ein Vermögen erwerben können.
Was ist dann mit der zehnten Million? Warum sollte sie schwerer zu erwirtschaften sein?
Werner: Das dürfen Sie nicht so wörtlich nehmen, der Satz ist eher aphoristisch gemeint. Die Schwelle zur Teilnahme am Wirtschaftsleben sollte niedriger werden. Das lässt sich auch so ausdrücken: Arbeit können Sie nicht bezahlen, Arbeit können sie nur ermöglichen.
Sie sprechen von einer Trennung von Arbeit und Einkommen.
Werner: Ja. Sie müssen den Menschen die Möglichkeit zum Leben geben, damit sie arbeiten können. Arbeiten heißt, für andere tätig zu werden. Solange der Blick aufgrund von Mangel oder Druck auf das eigene Leben verengt ist, gelingt es nur schwer, sich die Bedürfnisse der Mitmenschen zu eigen zu machen. Wir denken Einkommen als die Folge von Arbeit, was für uns zu einem Problem geworden ist. Wir meinen, der Mensch muss arbeiten, um leben zu können. Das funktioniert nicht.
Felber: Konkret heißt das, die Steuerbelastung sollte am Anfang null oder negativ sein, also in einer Unterstützung der Gesellschaft bestehen. Das nennt sich auch negative Einkommens- und Erbschaftssteuer. Bei höherem Einkommen steigt die Steuerbelastung progressiv, aber nicht so früh wie heute. Je höher die Einkommen werden, desto stärker wächst der der Steueranteil am Einkommen.
Das gibt es alles heute schon beim progressiven Tarif der Einkommenssteuer. Was versprechen Sie sich davon, die Progression zu verschärfen?
Felber: Die starke Progression beginnt heute viel zu früh, bei mittleren statt hohen Einkommen. Sie sollte erst in Einkommensklassen greifen, wo sich heute viel Macht konzentriert – und dadurch die Chancen zur Teilhabe für die übrigen Bürger stark sinken.
Sie denken an das Berlusconi-Syndrom?
Felber: Der Milliardär Silvio Berlusconi ist ein Beispiel; Frank Stronach, der sich in Österreich eine Partei kaufte, ein anderes; die Bush-Dynastie in den USA ein drittes.
Dann wäre es konsequent, ab einer bestimmten Einkommenshöhe alles zu 100 Prozent wegzusteuern?
Felber: Aus meiner Sicht ist das die liberalste Lösung, die es gibt, um die Überkonzentration von Macht zu verhindern. Allerdings sollte die Grenze vom demokratischen Souverän festgelegt werden, damit es tatsächlich eine demokratische Entscheidung ist. Wenn das der Souverän nicht will, wird es diese Grenze nicht geben, ab der Einkommen oder Erbschaften einer 100-prozentigen Steuer unterliegen.
Herr Werner, können Sie sich mit dieser Idee anfreunden?
Werner: Überhaupt nicht! Vermögende Menschen können der Steuerbelastung ausweichen, weil sie dazu viele Möglichkeiten haben. Unser Problem besteht darin, dass wir die Einkommen besteuern – und nicht die Ausgaben.
Ihnen schweben in erster Linie Konsumsteuern vor?
Werner: Ja, denn die wesentliche Frage ist nicht „Wie hoch ist dein Vermögen?“, sondern „Was hast du damit vor?“. Wenn jemand sein Geld investiert und mit seiner Arbeit Waren und Dienstleistungen in die Gemeinschaft einbringt, sollte er dafür nicht mittels höherer Steuern bestrafen werden. Sobald er aber die Leistung anderer Menschen in Anspruch nehmen will, also die Möglichkeiten der Gemeinschaft abruft, sollte er auch besteuert werden. Die Konsumsteuer ist die einzige Steuer, die sozial gerecht ist.
Felber: Dazu, Herr Werner, noch eine Frage: Im Moment können Milliardäre ihr Vermögen verschieben, z. B. in Steueroasen, weil wir einen freien Kapitalverkehr haben. Finden Sie es richtig, Kapital barrierefrei auf die Cayman lslands transferieren und der Steuerpflicht entziehen zu können? Oder sollten wir nicht bei einer Freigabe des Kapitalverkehrs als Gegenleistung Steuerkooperation einfordern? Damit ein Transfer zwar möglich bleibt, aber nicht die Steuerflucht?
Werner: Diese Frage stellt sich nur, wenn wir die Einkünfte besteuern – und nicht die Ausgaben. Wir brauchen einen Systemwechsel, weil wir heute in einer Gesellschaft leben, in der wir unser Einkommen gar nicht mehr selbst erwirtschaften, sondern von den Leistung anderer Menschen leben.
Jeder Anbieter, der sich nur an seinen Bedürfnissen orientiert, ist zum Scheitern verurteilt. Um die Bedürfnisse seiner Mitmenschen wahrnehmen und erkennen zu können, braucht es mindestens Menscheninteresse, besser ist echte Anteilnahme, der Idealfall ist Liebe. Liebe macht sehend für die Bedürfnisse des anderen.
Götz Werner, dm-Gründer
Herr Felber, Sie denken auch an große Änderungen im Bankensektor. Wollen Sie wirklich Zinsen abschaffen?
Felber: Es sollte gar keine Einkommen aus Geldkapital geben, Menschen sollten allein aufgrund ihrer Leistungen Geld verdienen. Sogar der internalisierte „homo oeconomicus“ müsste bei der Bevölkerungsmehrheit dafür eintreten, den Sparzins abzuschaffen.
Warum das denn?
Felber: Weil 90 Prozent der Bevölkerung weniger Sparzinsen bekommen, als sie an Kreditzinsen über den Konsum bezahlen. Neun von zehn Deutschen sind Netto-Zins-VerliererInnen, nur zehn Prozent gewinnen. Dieser Geldadel wird heute von der Masse alimentiert wie einst der Grundadel. Wenn die Menschen die Umverteilungswirkung des Zinssystems verstünden, wäre eine breite Mehrheit für die sofortige Abschaffung. Es geht um Gerechtigkeit.
Finden Sie Zinsen als müheloses Einkommen ungerecht?
Felber: Ja: Ohne Arbeit kein Geld, ist die Devise. Wir wollen aber den Sparzins auch aus Gründen der Nachhaltigkeit abschaffen – um den Wachstumszwang abzuschwächen. Kapital sollte nicht investiert werden, um noch mehr Kapital zurückzubekommen – sondern Sinn, Nutzwerte und Ethik. Das nenne ich die „Silber-Gold-Diamanten-Belohnung“: den „Return on Investment“ in der Gemeinwohl-Ökonomie.
Herr Werner, sehen Sie das anders?
Werner: Dass die Finanzwirtschaft Blüten treibt, die nicht im Sinne der Gemeinschaft sind, das sehe ich auch so. Was ich anders sehe: Wir dürfen nicht nur die Fehler eines Systems im Blick haben. Den Sinn des Individualverkehrs können Sie nicht am Unfallgeschehen beurteilen. Sie müssen ihn in der Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit suchen, in der Mobilität.
Wie geht es weiter mit der Gemeinwohl-Ökonomie in Europa, Herr Felber?
Felber: Der vier Jahre junge „Gesamtprozess Gemeinwohl-Ökonomie“ arbeitet mit drei Pioniergruppen: Erstens Unternehmer, die freiwillig ihre Gemeinwohlbilanzen erstellen, um Vorbilder in der Realität zu schaffen. Zweitens mit politischen Gebietskörperschaften, die Gemeinwohl-Gemeinden oder -Regionen werden wollen. Die dritte Gruppe sind Schulen und Universitäten: Wir basteln gerade an einem UNESCO-Lehrstuhl für Gemeinwohl-Ökonomie an der Universität Barcelona. In Santiago de Chile entsteht die Gemeinwohl-Buchhaltung. Eine Mittelschule in Wien startet nächstes Jahr mit einem Schulzweig Gemeinwohl-Ökonomie.
Herr Werner, beginnen da nicht viele Ideen zu leben, die Sie schon lange Zeit für wichtig halten?
Werner: Ja, unbedingt. Was glauben Sie, wie der TÜV entstanden ist? Es musste etwas unternommen werden, sonst wären die Leute mit Autos gefahren, die technisch in einem haarsträubenden Zustand waren. So brauchen wir auch einen TÜV für unsere Wirtschaft.
Felber: Richtig, ein Ethik-TÜV für die Wirtschaft ist unbedingt nötig.
Werner: Der TÜV wurde gegründet, weil man so die Zahl der Unfälle senken konnte. Als ich 15 Jahre alt war, gab es in Deutschland über 10.000 Verkehrstote, heute sind es noch 2.800 im Jahr, bei einem viel höheren Verkehrsaufkommen.
Ein Ethik-TÜV, das dürfte erst einmal eine Utopie bleiben.
Werner: Wenn jemand zu mir sagt, ich sei ein Utopist, antworte ich: Schauen Sie mal her, alles was Sie heute nutzen, Telefon, Auto, Flugzeug, war einmal eine Utopie. Die Utopien von heute sind die Realitäten von morgen.
Felber: „U-topos“ – das heißt wörtlich aus dem Griechischem übersetzt: „Es ist der Ort, an dem wir heute noch nicht sind, den wir aber morgen erreichen können.“
Werner: Daher sind Utopisten keine Irren, sondern die wirklichen Realisten.
Die Fragen stellte Ingo Leipner. Der Diplom-Volkswirt Ingo Leipner gründete 2005 die Textagentur EcoWords. Seine Themen: Unternehmenskultur, Ökologie/Ökonomie und Erneuerbare Energie. Texte aus seiner Feder erscheinen u. a. regelmäßig in der „Frankfurter Rundschau“ und „Berliner Zeitung“ sowie im „forum Nachhaltig Wirtschaften“, der Zeitschrift „energiezukunft“ oder dem Wirtschaftsmagazin „econo“. Zusammen mit Gerald Lembke hat er ein Buch geschrieben: „Zum Frühstück gibt´s Apps. Der tägliche Kampf mit der Digitalen Ambivalenz“, ab Oktober 2014 bei Springer Spektrum.
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