Erst umdenken, dann umsteuern – in unserem Interview mit Dr. Felix Prinz zu Löwenstein legte uns der Vorstandsvorsitzende des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) seine 5 Thesen für eine rasche und umfassende Ernährungswende dar.

Sie haben dieses Jahr auf der Grünen Woche in Berlin fünf Thesen zur Ernährungswende vorgestellt. Was war der Anlass, diese Thesen gerade jetzt zu formulieren?
Dr. Felix Prinz zu Löwenstein: Das ist im Grunde genommen das Resultat eines Diskussions- und Erkenntnisprozesses. Es reicht nicht, nur die agrarpolitischen Forderungen im Blick zu haben und eine Agrarwende zu postulieren, denn es geht um viel mehr. Es geht darum, dass alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat, in eine andere Richtung gehen muss, da ist auch der Konsum inbegriffen ─ deswegen sprechen wir von einer Ernährungswende!

Die Menschheit steht vor gewaltigen Herausforderungen, was die Zukunft unseres Planeten betrifft. Welche Rolle spielt hier die Ernährungswirtschaft?
Löwenstein: Es gibt zum einen überhaupt keinen vergleichbaren Wirtschaftszweig, auf den wir alle mehrfach am Tag so angewiesen sind wie auf die Ernährungswirtschaft. Zum anderen gibt es keinen Zweig, der so intensiv mit öffentlichen Allgemeingütern zu tun hat wie die Landwirtschaft. Und schließlich geht die Landwirtschaft in einer Weise mit diesen Allgemeingütern um, die auf Dauer nicht trägt: Biodiversität, Wasserqualität, Klimawandel, um nur einige Beispiele zu nennen. Das sind alles elementar wichtige Themen für uns als Gesellschaft. Und die hängen eben nicht nur von der Frage ab, wie wir produzieren, sondern auch, wie wir verbrauchen.

Welche Themen greifen die Thesen auf und welche Zielsetzungen verbinden Sie damit?
Löwenstein: Vorab möchte ich sagen: Die fünf Thesen betreffen die drängendsten Punkte, haben aber keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit! Erstens: Die Ernährungswende kann man nicht postulieren, wenn man nicht auch im Blick hat, was mit der einen Milliarde von insgesamt sieben Milliarden Menschen ist, die heute zu wenig zu essen hat. Zweitens: Wenn wir uns falsch ernähren, hat das mit einer falschen Landwirtschaft zu tun, die starke Auswirkungen auf die Allgemeingüter Natur und Umwelt hat. Aber es hat auch enorme Folgen für die menschliche Gesundheit, deswegen spielt die gesunde Ernährung eine wichtige Rolle. Das wiederum hat viel mit dem Bewusstsein der Menschen und ihrem Bildungsstand zu tun. Dritter Schwerpunkt oder eigentlich der Hotspot sind die Tierhaltung und der Fleischkonsum: Nirgendwo hat unser Handeln so grauenhafte Folgen wie in der industriellen Tierhaltung. Viertens: Ein zentraler Anspruch der ökologischen Landwirtschaft ist es, so gut wie möglich im Kreislauf zu wirtschaften, das heißt, wir müssen mit möglichst wenigen Ressourcen von außerhalb auskommen, weil sie endlich sind. Und mit der fünften These wollen wir den Blick darauf werfen, dass das gesamte Wirtschaftssystem eine Rolle dafür spielt, wie wir darin wirtschaften. Solange wir den Erfolg unserer Volkswirtschaft nur mit dem Bruttosozialprodukt abbilden, setzen wir völlig falsche Anreize für Wirtschaft und Politik.

Wie soll die (Ernährungs-)Wirtschaft der Zukunft aussehen?
Löwenstein: Mein Bild von Wirtschaft ist, dass wir mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, als Treuhänder der Allgemeinheit achtsam und fürsorglich umgehen. Was ich aber stattdessen beobachte: Engagement beginnt erst an dem Tag, an dem die Bücher zugemacht sind. Dann nimmt man die Gewinne aus einer Wirtschaft, die zerstörerisch war, um damit Corporate Social Responsibility zu betreiben. Das ist immer nur ein Reparaturbetrieb, der auf Dauer nicht funktioniert. Und deswegen brauchen wir eine Wirtschaft, deren Erfolg sich daran bemisst, wie effizient sie mit den Allgemeingütern umgeht.

Unter der These „Recht auf Nahrung“ fordern Sie unter anderem eine strenge Regulierung des Börsenhandels mit Nahrungsmitteln. Können Sie das bitte für unsere Leserinnen und Leser genauer erläutern?
Löwenstein: Das Welternährungsthema ist ausgesprochen komplex und hat viele Seiten. Wie kann man eine Produktion so organisieren, dass ein Höchstmaß an Ernährungssouveränität entsteht? Ernährungssouveränität ist genau das Gegenteil der derzeitigen Realität. Die wirtschaftlichen Konzepte zielen auf etwas anderes. Wir haben Jahrzehnte einer Agrarpolitik hinter uns, die darauf basierte, Überschüsse zu garantierten Preisen zu erzeugen und diese Überschüsse zu Dumpingpreisen auf den Märkten der Entwicklungsländer abzusetzen. Dieses Modell hat dazu geführt, dass die Entwicklungsländer in immer größere Abhängigkeit von internationalen Rohstoffmärkten geraten sind. Diese Abhängigkeit macht die Menschen sehr empfindlich für Preisschwankungen, weil sie nicht wie wir 10 oder 11 Prozent ihres Geldes für die Ernährung ausgeben, sondern 50 oder 60 Prozent. Eine Verdoppelung der Preise macht hier den Unterscheid zwischen essen und nicht essen. Warenterminmärkte sind per se keine dumme Idee, wenn so ein Bauer oder ein Bäcker seine Warenver- bzw. -einkaufspreise absichern kann. Deswegen fordern wir auch nicht, dass die Spekulationen abgeschafft werden, sondern ihre Regulierung. Die Deregulierung hat erst im Laufe des letzten Jahrzehnts stattgefunden. Also kennen wir den Zustand noch, zu dem wir wieder zurück müssten, damit diese Spekulationen aufhören, die nur noch 10 Prozent dessen, was an Geldvolumen bewegt wird, in Warenvolumen abbilden. Spekulationen sind nicht für hohe oder niedrige Preise verantwortlich, aber sie verstärken die Ausschläge. sr

5 Thesen zur Ernährungswende des BÖLW

1. Recht auf Nahrung
a. Wettbewerbsverzerrende Subventionen vollständig abschaffen. Ausschließlich ökologische
und soziale Leistungen, die für die Gesellschaft und Natur erbracht werden, werden honoriert.
Exportsubventionen endgültig abschaffen.
b. Den Börsenhandel mit Nahrungsmitteln streng regulieren.
c. Sonderstatus der Landwirtschaft innerhalb der WTO-Handelsregeln einführen.

2. Nachhaltige Ernährung
a. Die Fächer Ernährungslehre, Kochen, Hauswirtschaft in allen allgemeinbildenden Schulen
einführen – ausgerichtet an einem nachhaltigen Ernährungsstil.
b. Alle öffentlichen Kantinen auf eine ökologische Kost umstellen.

3. Artgerechte Tierhaltung
a. Staatliche Investitionszuschüsse für Stallneu- und Umbauten werden generell in allen Bundesländern
nur noch für artgerechte Tierhaltungssysteme gewährt, die über dem gesetzlichen
Mindeststandard liegen.
b. Strategie umsetzen, mit der alle Betriebe in einer bestimmten Übergangsfrist auf artgerechte
Tierhaltung umstellen müssen. Diese wird dann im Tierschutzgesetz verankert.

4. Kreislaufwirtschaft
a. Durch die Produktion bedingte Umwelt- und sonstige gesellschaftliche Kosten den Verursachern
zuordnen, durch eine Abgabe auf synthetischen Stickstoff, Pestizide und Importeiweiß
sowie deren Umlage zur Förderung nachhaltiger Produktionssysteme.
b. Böden dürfen nur noch bei gleichzeitiger Entsiegelung anderer Flächen versiegelt werden.

5. Öko-soziale Marktwirtschaft
a. Die Wirtschaftsleistung ist mittelfristig mit dem Nationalen Wohlfahrts-Indikator (NWI) anstelle
des Bruttosozialprodukts zu messen.
b. Betriebliche Umweltmanagementsysteme in Verarbeitungs- und Handelsbetrieben als
Grundlage für eine betriebliche Ökobilanz einführen und das Ergebnis steuerlich berücksichtigen.