Warum ist eine neue Mobilitätskultur auf dem Land so wichtig?

Klaus-Peter Gussfeld: Der wichtigste Grund ist der Klimaschutz. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist beim Thema Klimaschutz der Verkehr das eigentliche Sorgenkind. Nötig wäre ein Rückgang von 40 % der CO2-Emissionen im Straßenverkehr. Obwohl in Baden-Württemberg insgesamt die CO2-Emissionen seit 1990 zurückgegangen sind, sind sie im Straßenverkehr um 13 % Prozent angestiegen. Grund dafür ist der Anstieg im Straßengüterverkehr, der auch durch den stetig wachsenden Online-Handel bedingt ist. Das stellt uns vor klimapolitische Herausforderungen. Im ländlichen Raum sind diese besonders groß, weil er sehr durch die Dominanz des Autos geprägt ist. Der öffentliche Verkehr spielt hier mehr eine untergeordnete Rolle.

Gerade im ländlichen Raum ist ein Auto doch mehr oder weniger ein Muss, oder?

Die Schwierigkeiten sich auf dem Land ohne Auto fortzubewegen, sind sicherlich offensichtlich. Besonders, weil die zurückzulegenden Entfernungen in den letzten Jahren immer größer geworden sind. Es gibt immer weniger örtliche Angebote, wie Schulen, Behörden oder Gesundheitsdienstleistungen – sie werden zentralisiert. Das hat zur Folge, dass in vielen kleineren Orten längere Wege zurückgelegt werden müssen. Hinzu kommt, dass durch die aktuelle Flächenpolitik die Zersiedlung stark zunimmt. Es werden zum Beispiel Einfamilienhausgebiete an Ortsrändern errichtet, von denen man weite Wege ins Zentrum zurücklegen muss. So werden die Rahmenbedingungen für den öffentlichen Verkehr auf dem Land immer schwieriger.

Warum werden die Wege bei der ländlichen Raumplanung nicht mehr mitbedacht?

Moderne Verwaltungen, vor allem auf Ebene der Regionalplanung, legen in der letzten Zeit schon einen Fokus auf diese Belange. Doch in diesen Gremien sitzen natürlich auch die jeweiligen Lokalpolitiker. Und manchmal ist der eigene Kirchturm dann doch ein bisschen näher als das große Ganze.

Klaus-Peter Gussfeld
Klaus-Peter Gussfeld

Was gibt es für Vorreiterprojekte im Bereich Mobilität im ländlichen Raum?

Vor einigen Jahren haben wir als BUND ein Projekt durchgeführt, in dem wir bundesweit nach positiven Beispielen zum Thema Mobilität auf dem Land gesucht haben. Dabei haben wir über 100 Projekte gefunden, die wir auch alle auf unserer Homepage veröffentlicht haben.

Es gibt zum Beispiel sehr innovative Schienenprojekte, wie den Dreierringzug auf der Baar im Schwarzwald, der die Verbindung von kleineren zu größeren Orten anbietet. Der Ringzug entstand, weil die Deutsche Bundesbahn damals in der Gegend nur noch Altzüge fahren ließ, die an großen Orten hielten. Da setzten sich die Gemeinden und Landkreise zusammen und überlegten, wie der Nahverkehr auf der Schiene auch in den kleinen Orten attraktiv werden kann. So entstand der Dreierringzug, der die kleineren Orte im Stundentakt verbindet und auch an großen Knotenpunkten hält, die von den Regionalexpresszügen angefahren werden. Dieses Modell ist sehr erfolgreich und trifft auf großen Zuspruch seitens der Bevölkerung.

Ein anderes Beispiel ist die Schönbruchbahn von Böblingen nach Dettenhausen, ganz am Rande von Stuttgart gelegen. Sie wurde vor Jahren stillgelegt, weil man offensichtlich der Meinung war, dass in dieser Gegend der Bus attraktiver sei. Durch lokale und kommunale Initiativen gelang es, die Bahn zu reaktivieren. Beim Start, mit einem Gleis und Dieseltriebwagen, wurde die Bahn schon von den Kunden überrannt. Sie wurde deutlich mehr genutzt, als erwartet. Es wurden weitere Ausbaumaßnahmen eingeleitet und heute existiert eine elektrifizierte Bahnlinie, die teilweise zweigleisig ausgebaut ist und noch häufiger fährt als früher. Diese Reaktivierungsprojekte von stillgelegten Bahngleisen beruhen in erster Linie auf dem Engagement der Leute vor Ort, die sich für ihre Eisenbahn einsetzen. Oft ist die Nutzung dann wesentlich größer, als im Vorfeld prognostiziert.

 

Wie kann das sein? Die Strecken wurden doch stillgelegt, weil sie nicht ausreichend genutzt wurden. Ist der Bedarf wieder gestiegen?

Früher gab es keine attraktiven Angebote auf den Gleisen. Die Fahrpläne waren unregelmäßig. Da fuhren dann vielleicht fünf oder sechs Züge am Tag und ab Samstagmittag überhaupt nichts mehr. Das ist eine schlechte Grundlage, um Kunden zu gewinnen. Die Infrastruktur war marode, die Höchstgeschwindigkeiten lagen teilweise bei 30 bis 40 Stundenkilometern. Damit regionale Strecken auch genutzt werden, muss die Infrastruktur auf Vordermann gebracht werden. Die Züge sollten schnell genug fahren und auch für Menschen mit Fahrrad oder für mobilitätseingeschränkte Personen gut zu nutzen sein. Zudem sollten die Fahrzeuge schön und bequem sein, damit man gerne mit ihnen fährt. Das ist beim Auto ja auch Standard, da möchten die wenigsten mit einem Modell der 50er Jahre fahren.

Wer jetzt aufgrund der Pandemie denkt, Auto fahren ist besser, denkt zu kurz. Denn die Klimakrise ist offensichtlich und ohne eine Mobilitätswende geht es einfach nicht.
Klaus-Peter Gussfeld

Stellen Busse eine gute Alternative dar?

Bei Bussen ist es schwieriger. Oft wird der Bus als Verkehrsmittel für Menschen mit wenig Geld gesehen. Wer es sich leisten kann, fährt Auto. Dazu kommt, dass der Bus in ländlichen Regionen oft unattraktiv ist: er kommt nicht oft und braucht lange. Da braucht es andere Ansätze. In Baden-Württemberg haben wir deswegen Regio-Busse eingeführt. Das sind Busse, die längere Strecken fahren und Knotenpunkte des Schienenverkehrs bedienen. Diese Regiobus-Linien zeichnen sich durch Qualitätsstandards aus. Sie fahren von morgens früh bis abends spät im Stundentakt, haben schnelle Fahrtzeiten und man kann in ihnen die  gleichen Fahrkarten wie beim Schienenverkehr nutzen. Zudem sind sie bequem und es gibt auch W-LAN im Bus. Wenn ein solches Konzept systematisch umgesetzt und beworben wird, dann kann auch das Busfahren attraktiv werden. Die Nutzungszahlen unserer ersten Regio-Bus-Linie in Baden-Württemberg sind sehr überzeugend. Mittlerweile konnten wir noch weitere Linien im ländlichen Raum erfolgreich umsetzen.

 

Wie finanzieren sich diese Angebote?

Betriebswirtschaftlich tragen sich die Projekte zunächst nicht. Eine wichtige Grundlage ist, dass das Land seine Verantwortung wahrnimmt und diese Projekte für die ersten Jahre subventioniert. Denn das ist Aufgabe der Daseinsvorsorge, Bund und Länder haben die Verantwortung, dass diese Angebote funktionieren. Auch wegen der umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen.

 

Welche Mobilitätsformen gibt es noch auf dem Land?

Ich spreche hier gerne von einem Stufenkonzept. Das wichtigste sind leistungsfähige Schienensysteme auf den Hauptachsen. Dort wo es keine Schienen gibt, sollten schnelle Regio-Bus-Linien fahren. Auf der dritten Ebene müssen dann die Zentren der ländlichen Räume an den örtlichen Nahverkehr, also den Ortsbus, angebunden werden.

Eine Alternative zum Ortsbus sind auch bedarfsorientierte Systeme. Es gibt eine ganze Bandbreite an Projekten im Bereich Bürgerbusse, die durchaus attraktiv sind.

Das können Busse mit einem festen Fahrplan sein oder Busse, die auf Abruf, wie ein Sammeltaxi, funktionieren. Über Smartphone kann man sich dann nach Bedarf eine Fahrgelegenheit buchen. Viele dieser Bürgerbusse beruhen auf ehrenamtlichem Engagement.

Ein weiterer interessanter Ansatz ist der Kombi-Bus, ein Modellprojekt in Mecklenburg-Vorpommern. Hier wird der Personenverkehr mit der Güterbeförderung kombiniert. Mecklenburg Vorpommern hat sehr dünn besiedelte Räume, es sitzen nur wenige Leute im Bus. Um die Wirtschaftlichkeit zu steigern, wird der Kombi-Bus auch genutzt, um in der Region Güter zu transportieren. Da werden zum Beispiel dann Produkte der ländlichen Landwirtschaft in Paketen zum Bus gebracht und der Busfahrer liefert diese dann in der nächsten Gaststätte oder im nächsten Hotel ab. So dienen die Busse auch der Unterstützung der regionalen Wirtschaftskreisläufe.

 

Kann das Fahrrad eine gute Ergänzung zu Bahn und Bus sein?

Auf jeden Fall. Gerade auch E-Bikes, die immer populärer werden weil sie leichter zu fahren sind, helfen dabei, den Radius der Eisenbahnstationen erheblich zu vergrößern. Deswegen plädieren wir dafür, die Knotenbahnhöfe in ländlichen Regionen zu Mobilitätsdrehscheiben auszubauen, die die verschiedenen Verkehrsmittel miteinander verknüpfen. Ein wichtiger Baustein ist dabei das Fahrrad. Das setzt natürlich voraus, das es an den Knotenpunkten gute Abstellanlagen für Fahrräder gibt, die ausreichend groß, witterungsgeschützt und diebstahlsicher sind. Bei hochwertigen E-Bikes bieten sich auch Miet-Fahrradboxen mit Lademöglichkeit an.

 

Wie hat sich die Corona-Krise auf die Mobilität in ländlichen Regionen ausgewirkt?

Aktuell ist der öffentliche Verkehr einer der Verlierer der Pandemie. Viele Leute trauen sich noch nicht wieder in die Busse und Bahnen rein und fahren stattdessen vermehrt Auto. Das hatte erhebliche finanzielle Verluste zur Folge, die vom Land und Bund ausgeglichen werden müssen. Wer jetzt aufgrund der Pandemie denkt, Auto fahren ist besser, denkt zu kurz. Denn die Klimakrise ist offensichtlich und ohne eine Mobilitätswende geht es einfach nicht.

Interview: Sarah Kröger