Wer Kinder hat, kennt dieses Phänomen vielleicht: Ständig sind die Klamotten zu klein. Das Lieblingsshirt, das letzten Sommer jeden Tag angezogen werden musste, passt schon lange nicht mehr. Besonders bei kleinen Kindern ist die Trauer dann manchmal groß. Gleichzeitig ist der Dauer-Notstand in Sachen Kleidung auch für die Eltern anstrengend, die alle paar Monate für ihr Kind eine komplette Neuausstattung kaufen müssen. Das nervt, ist ganz schön teuer und kein bisschen nachhaltig.

Oktopulli

Carla Reuter und Nancy Frehse haben deswegen den Oktopulli entwickelt, einen Kinderpulli, der mitwächst. „Wir wollten ein Kleidungsstück machen, das das Kind lange begleitet“,erzählt Nancy Frehse im Videointerview. Der spezielle Oversized-Schnitt ermöglicht es Kindern, den Oktopulli mindestens zwei Jahre tragen und sich trotzdem bequem darin bewegen zu können. Weil sie viel Wert auf Nachhaltigkeit legen, ist der Pullover genderneutral designt und kann so auch an Geschwister weitergegeben werden. Ein Euro pro verkauftem Pulli wird zudem an die gemeinnützige Organisation Sea-Watch gespendet.

Die beiden Gründerinnen Carla (l.) & Nancy Foto: Julia Buchholz

Vom Näh-Projekt zum Slow Fashion Label

Es sollte eigentlich nur ein kleines Projekt werden: Nancy Frehse  war kürzlich Tante geworden und wollte ihrem Neffen Kleidung nähen. Doch der Gedanke, alle drei Monate neue Kleidungsstücke zu schneidern, gefiel ihr nicht. Stattdessen kam ihr die Idee, einen mitwachsenden Pulli zu konzipieren. Davon erzählte sie ihrer Freundin Carla Reuter, die sie beim gemeinsamen Studium der Ökonomie und Gesellschaftsgestaltung kennengelernt hatte. „Als Nancy mit der Idee kam, war es mitten in der Pandemie und mir war ein bisschen langweilig. So dachte ich: Klar, lass uns das mal ausprobieren“, berichtet Carla Reuter lachend. Der Plan war, ab und zu ein paar Pullis zu nähen und diese im Bekanntenkreis zu verkaufen. „Es ging dann sehr viel schneller in eine ernsthafte Richtung, als wir das für möglich gehalten haben“, so Carla Reuter. Die Gründerinnen begannen mit einem befreundeten Schneider den Pullover zu optimieren. Im April dieses Jahres verkauften sie die ersten Exemplare an Interessierte. Der Pulli kam gut an, es gab immer mehr Nachfragen. Das war der Startschuss für das Slow Fashion Label Oktopulli, bei dem Nancy Frehse mittlerweile Vollzeit und Carla Reuter in Teilzeit arbeitet. Parallel dazu schreiben sie an ihren Masterarbeiten.

​​​​​​Wir wollten ein Kleidungsstück machen, das das Kind lange begleitet
Nancy Frehse

Ressourcenschonend

Die Gründerinnen verwenden nur Stoffe, die es auf dem Textilmarkt schon gibt. Oft sind das Überschusswaren von Labels, sie kaufen aber auch unbenutzte Ware von Privatpersonen über Ebay auf. „Wir nehmen die Stoffe, aus denen andere nichts mehr machen können oder wollen und verarbeiten sie zu langlebigen Kleidungsstücken“, erklärt Nancy Frehse. Darüber hinaus haben sie einen aufklärerischen Anspruch: Beim Einkauf versuchen sie, mit den Unternehmen ins Gespräch zu kommen: Lässt sich die Überproduktion vielleicht verringern? Können Stoffe mit kleinen Fehlern nicht doch gegen Rabatt an die Kunden weitergegeben werden? Das Thema Fast Fashion hätte beide schon länger umgetrieben, sagt Carla Reuter. Ungefähr 12 Prozent Stoff würden schon bei der Produktion von Textilien verloren gehen. Auch B-Ware würde oft weggeworfen werden. So gingen Unmengen an Stoff verloren, der eigentlich noch brauchbar wäre. „Es ist uns sehr wichtig, dass die Menschen wieder eine Wertschätzung für Kleidung entwickeln. Wir sind beide unglaublich genervt von diesem ganzen Fast Fashion Wahnsinn“, meint Nancy Frehse.

Slow Fashion

Deswegen gehen sie es langsam an. Verkaufsgespräche auf Berliner Wochenmärkten können schon mal 25 Minuten dauern. „Die Leute interessieren sich für das Produkt und erzählen uns ihre Geschichten. Das ist eigentlich genau das, was wir wollen: Nicht einfach nur einen schnellen Kauf, sondern Dialog. Alles andere passt nicht zu Slow Fashion“, findet Nancy Frehse. Auch ihre Produktpallette möchten sie nicht unnötig schnell erweitern. Ihnen ist es wichtiger, ein Qualitätsprodukt zu produzieren. Ihre Oktopullis soll es in möglichst vielen verschiedenen Formen und Farben geben, damit jedes Kind sich darin wiederfindet. Als Modelabel wollen sie sich Zeit nehmen, zu wachsen und funktionierende interne Prozesse aufzubauen. Ihre Unternehmensphilosophie spiegelt sich allerdings auch im Preis wieder: 49,50 € kostet ein Oktopulli, ungefähr 35 Euro mehr, als bei den großen Fast Fashion Läden. Doch Carla Reuter ist überzeugt: „Der Kauf eines Oktopullis ersetzt im Schnitt vier Neukäufe. Das ist dann am Ende günstiger.“

Unternehmer*innentum neu denken
 

Erst vor kurzem haben sie eine GmbH in Verantwortungseigentum gegründet. „Das bedeutet, das Unternehmen gehört sich selbst und wir können privat keine Gewinne entnehmen“, erklärt Nancy Frehse. Die Gewinne werden bei Oktopulli stattdessen reinvestiert. Sobald ausreichend Rücklagen gebildet wurden, spendet das Slow Fashion Label 5% des Jahresgewinns an eine gemeinnützige Organisation. Zukünftig träumen die Gründerinnen davon, für die Produktion in eine größere Werkstatt zu ziehen. Um die Ausstattung dafür zu finanzieren, haben sie eine Crowdfunding-Kampagne gestartet.  „Wir versuchen bei Oktopulli Unternehmer*innentum anders zu denken. Das hat auch immer eine gesellschaftliche Komponente. Mit der Kampagne möchten wir die Leute davon überzeugen, ein Teil dieser Idee zu werden“, sagt Carla Reuter.