Die Corona-Krise zwingt uns zum radikalen Umdenken, auch in Sachen Konsum. Doch wer nachhaltig leben möchte, muss nicht gleich die 100% schaffen, meint Prof. Dr. Christa Liedtke vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Sarah Kröger hat mit ihr gesprochen.

Die Corona-Krise hat vieles in Frage gestellt, auch unser Konsumverhalten. Ergeben sich dadurch Chancen?

Prof. Dr. Christa Liedtke: In der Krise wurden  die Schwachstellen unseres Produktions- und Konsumsystems nur zu deutlich. Zu Anfang hatte die Bevölkerung Angst, bestimmte Produkte, wie Lebensmittel, nicht mehr kaufen zu können. In anderen Ländern und auch bei uns wurde die Produktion vielerorts eingestellt. Das ist in der zweiten Welle schon nicht mehr so gewesen. Aber es wurde klar, dass durch den Abbruch der Lieferketten Menschen weltweit in Bedrängnis gekommen sind. Durch die Krise betrachten viele von uns unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit anderen Augen. Viele denken vielleicht zum ersten Mal darüber nach: Was steckt eigentlich hinter den Produkten, die ich im Einzelhandel oder online bestelle? Durch wie viele Hände geht das? Welche Bedingungen herrschen da? Die Pandemie lenkt den Blick vom Konsum in Richtung Produktion und Lieferketten. Kreislauforientierung, regionales und global kooperatives Wirtschaften rücken nun stärker in den Fokus. Hier liegt auch eine Chance für Politik und Wirtschaft, genau jetzt resilientere Lieferketten und fairere regionalwirtschaftliche, global kooperative Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen.

Gerade quellen die Lager der Textilketten über, weil die Menschen weniger Kleidung als sonst kaufen. Findet momentan ein Umdenken statt?

Ich bin mir noch nicht ganz sicher, inwieweit wir nicht schon bald in alte Strukturen zurückfallen, wenn wir in die sogenannte „Normalität“ zurückkehren. Es hat sich ja gezeigt, dass die Menschen online weiterhin sehr viel einkaufen. Der Mix an Gekauftem ist im Verhältnis anders geworden und manche Haushalte kaufen auch weniger. Viele sind aber auch einfach nur froh, wenn sie mal wieder einen Grund haben, rauszukommen und sich schick anziehen zu können. Kleidung ist ja auch sehr wichtig für das Selbstbild, die eigene Identität. Ohne Resonanz macht das keinen Spaß!

Wichtig ist mir aber, dass sich nun mehr über die Lieferketten Gedanken gemacht wird. Es gibt sehr viele Missstände bei der Textilproduktion – die müssen abgestellt werden. Wir sind mitverantwortlich für die Situation in unseren Lieferketten vor Ort wie auch in den Lieferländern, weil wir vom globalen Handel und der Produktion stark profitieren. Die Frage ist: Wie können wir uns jetzt gemeinsam entwickeln und kooperativ vorgehen? Wie können wir für möglichst viele Regionen die UN-Nachhaltigkeitsziele erreichen? Und wie können wir Wirtschaftsmodelle regionalisieren und gleichzeitig das Wissen und die Innovation globalisieren?

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Prof. Dr. Christa Liedtke leitet die Abteilung Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, ist Professorin an der Folkwang Universität und Co-Vorsitzende der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030. Credit: Wuppertal Institut/Sabine Michaelis

Ich greife im Supermarkt öfters zu Bio- oder Fairtrade-Produkten, wenn sie gut sichtbar sind. Nachhaltige Kleidung zu finden, gestaltet sich für mich aber viel schwieriger, da es kaum Auswahl gibt.

Es gibt bisher leider noch sehr wenig nachhaltige Kleidung, die für uns auch einfach in den Läden erkennbar ist. Dabei gibt es schon zahlreiche Angebote. Sehr beeindruckend fand ich es, wie in den letzten Jahren die Regalmeter an Bio-Produkten in den Discountern gewachsen sind. In manchen muss ich zwar immer noch danach suchen, aber bei anderen sieht man sie sofort. Ich würde zwar immer noch nicht sagen, dass der Kauf von Bio-Lebensmitteln in der Breite der Gesellschaft angekommen ist, aber man sieht, wie die wachsende Nachfrage das Angebot verändert. Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich da eine Menge getan. Genauso kann das auch bei den Textilien passieren. Dazu braucht es aber transparente Produktinformationen und Siegel, mit denen sich nachhaltiger produzierende Unternehmen im Markt differenzieren könnten, wie es der Grüne Knopf anstrebt.

Wie können wir Wirtschaftsmodelle regionalisieren und gleichzeitig das Wissen und die Innovation globalisieren?
Prof. Dr. Christa Liedtke

Wie lässt sich denn ein großer Bekleidungskonzern dazu bewegen, nachhaltiger zu produzieren?

Wir bekommen ja jetzt das Lieferkettengesetz, in dem Unternehmen verpflichtet werden sollten, ihre Produkte entlang ihrer Lieferkette auf umweltschädigende oder gegen die Arbeitsbedingungen verstoßende Produktionsverfahren zurückzuverfolgen. Das ist natürlich noch nicht so ausdifferenziert, wie wir uns das gewünscht hätten. Es geht zum Beispiel mittlerweile nur noch um die unmittelbaren Lieferanten und nicht mehr um die gesamte Lieferkette. Das ist enttäuschend! Aber es ist wenigstens mal ein Startpunkt, nachdem man ganz lange darum gestritten hat, ob es das überhaupt geben wird. Will ein Unternehmen sich differenzieren, so sollte es wesentlich ambitionierter vorgehen und auch eine entsprechende Nachhaltigkeitsmarke etablieren. Das birgt auch wirtschaftliche Chancen. Wünschenswert wären auch Rahmenziele, zum Beispiel ein bestimmtes Maß an Ressourcen pro Produkt im Lebenszyklus oder eine anzustrebende Lebensdauer des Materials in der Kreislaufwirtschaft. Wenn Unternehmen wissen, dass es sich lohnt diese zu erreichen oder eine konkrete Vorgabe haben, dann werden sie auch erfinderisch und gestalterisch. Solche Ziele haben wir aktuell nicht. Es wird so getan, als wenn die Ressourcen einfach so frei verfügbar sind. Umweltschäden werden zum Beispiel nicht eingepreist.

Gleichzeitig sollte die Politik auch noch weitere Anreizstrukturen für die Reparatur und Wiederverwendung von Textilien schaffen. Zum Beispiel könnten Reparaturdienstleistungen geringer besteuert werden. Wenn die Reparatur eines Kleidungsstücks billiger wird als ein Neukauf, könnte so die Lebensdauer vieler Textilien verlängert werden. Es könnten auch gezielt Labels gefördert werden, die gebrauchte Kleidung umarbeiten und daraus eine Modelinie entwickeln. Da ist noch ganz viel Luft nach oben.

Und was könnte die einzelnen Konsument*innen motivieren, nachhaltiger einzukaufen?

Motivierend sind letztendlich immer auch gesellschaftliche Normen. Was ist angesehen, was nicht? Es muss ein Statusgewinn werden, nachhaltig zu handeln. Dazu braucht es noch ganz viel Kommunikation und Erprobung vielfältiger Lösungsansätze über den richtigen Weg in der Gesellschaft. Wollen wir überhaupt Produkte, für die andere Menschen ausgebeutet werden oder die Umwelt geschädigt wird? Sind wir bereit, mehr dafür zu bezahlen, wenn das abgestellt wird? Diese Diskussion muss in der gesamten Gesellschaft offen und transparent geführt werden. Nur wenn die Menschen einfach zugängliche und nachvollziehbare Informationen erhalten, können sie auch nachhaltiger handeln.

 

Viele Menschen glauben, dass sie sich Bio-Lebensmittel oder fair gehandelte Kleidung nicht leisten können. Was antworten Sie denen?

Jede und jeder kann beitragen – das Wissen um das Wie ist wichtig. Man kann ja auch Dinge miteinander kombinieren. Ich beobachte das bei jungen Menschen, die Second Hand Kleidung mit etwas teureren Kleidungsstücken kombinieren, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Wichtig ist, den ersten Schritt zu tun. Es geht nicht darum von jetzt auf gleich zu 100% nachhaltig zu sein. Vielleicht kombiniere ich anfangs erstmal ein nachhaltigeres Kleidungsstück mit einem nicht so nachhaltigen und habe dann einen Anteil von 20% nachhaltiger Kleidung zu Hause. Dieser Anteil kann von Jahr zu Jahr größer werden. Meine nicht genutzte Kleidung kann ich weitergeben und die gekaufte möglichst lange tragen. Wenn das viele Menschen machen, dann hat das eine erhebliche Wirkung. Das Versuchen, Ausprobieren und Spaß haben am Verändern, das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Sache dabei.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Für mich ist durch die Pandemie momentan alles in Frage gestellt. Wir erleben einen gesellschaftlichen Wandel, an dem wir alle stark beteiligt sind. Bei allem, was gerade schief läuft, bin ich erstaunt und begeistert von unserer Gesellschaft, was wir tatsächlich in der Lage sind zu leisten. Das zeigt uns doch, dass wir auch einen Klimawandel und andere Themen innerhalb der Gesellschaft sehr offen und diskursiv angehen sollten – weil wir es können. Es gibt bestimmte Themen, wie soziale Gerechtigkeit oder Teilhabe, an die wir jetzt ranmüssen. Ich habe schon das Gefühl, dass diese Themen von der Politik, der Wissenschaft und vielen gesellschaftlichen Gruppen als zentral eingestuft werden. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie spricht hier von einem Gemeinschaftswerk. Genau daran sollten wir weiterarbeiten. Diesen Prozess finde ich gerade sehr aufregend. Wenn nicht jetzt, wann dann?