Es ist Freitagnachmittag in Berlin-Kreuzberg. Vor dem Eingang der Markthalle Neun sitzen allerhand Menschen auf Bänken, trinken Kaffee und genießen die letzten goldenen Sonnenstrahlen des Herbstes. Manche haben es sich auch auf dem Gehsteig gemütlich gemacht, andere stehen in Grüppchen herum und unterhalten sich angeregt. Ein Treiben, wie man es von einem Markt nicht anders erwartet.

In der Halle bereitet eine Frau mit Kopftuch gefüllte Teigtaschen zu, am Käsestand sind riesige, leuchtend gelbe Käselaibe aufgestapelt, bei der Bäckerei Sironi duftet es nach original italienischem Brot und Pizza. Zwischen bunten Blumensträußen, türkischem Tee aus dem Samowar und regionalem Obst und Gemüse treffe ich Nikolaus Driessen. Er ist einer der drei Geschäftsführer der Markthalle Neun und mit ihnen Kunde der Triodos Bank. Seine Mitgründer Bernd Maier und Florian Niedermeier traf er, als er sich in einer Nachbarschaftsinitiative engagierte, die den Verkauf der Halle an einen großen Investor verhindern wollte. „Da sollte dann ein großer Supermarkt rein“, sagt Nikolaus Driessen. „Wir haben das zum Anlass genommen und gefordert: Lass uns das doch zumindest mal diskutieren. Und dann kam es zur Neuausschreibung.“

Zum ersten Mal in der Geschichte der Berliner Liegenschaftspolitik wurde ein Gebäude nicht zum höchsten Preis, sondern an das beste Konzept verkauft.
Nikolaus Driessen

Gemeinsam mit Bernd Maier und Florian Niedermeier, die auch das Restaurant Meierei in Berlin-Prenzlauer Berg gegründet haben und schon lange eine Markthalle aufmachen wollten, bewarb er sich mit einem Konzept zur Wiederbelebung der Markthalle Neun. Mit Erfolg: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Berliner Liegenschaftspolitik wurde ein Gebäude nicht zum höchsten Preis, sondern an das beste Konzept verkauft. Und das war unseres.“, erzählt Nikolaus Driessen.

Anders essen und einkaufen

Zehn Jahre ist es nun her, dass sie die Markthalle Neun neu eröffnet haben. Statt eines großen Supermarktes hat sich hier ein Wochenmarkt etabliert, der von Montag bis Samstag Produkte für den täglichen Bedarf und Spezialitäten aus aller Welt anbietet. Darüber hinaus wurden vor Corona regelmäßig Themenmärkte, wie der Street Food Thursday, das Coffee Festival oder der Berliner Naschmarkt, veranstaltet. So wollen die Betreiber den kleinteiligen Lebensmittelhandel und das Handwerk wieder im Kiez ansiedeln.

Die drei Gründer: Nikolaus Driessen (l.), Florian Niedermeier (M.) und Bernd Maier
Die drei Gründer: Nikolaus Driessen (l.), Florian Niedermeier (M.) und Bernd Maier. Credit: Markthalle Neun

Knapp dreißig Betriebe haben sich mittlerweile in der Markthalle niedergelassen und mehrere hundertArbeitsplätze wurden geschaffen, sagt Nikolaus Driessen. Wichtiger Teil des Konzeptes sei, zu zeigen, dass „Anders-Essen“ und „Anders-Einkaufen“ in der Stadt möglich ist: Regional, saisonal und im respektvollen Umgang mit Mensch, Tier und Umwelt. So stammen viele der dort verkauften Produkte von Erzeugern aus der Region und sind überwiegend ökologisch. Das Wissen zum Thema nachhaltige Lebensmittel wollen sie auch in der Nachbarschaft weitergeben. Denn die Preise der Markthalle Neun sind keine Discounter-Preise und für manche Familien im Umkreis nur schwer erschwinglich. Immer wieder wird die Angst vor Gentrifizierung laut. Doch Nikolaus Driessen findet: „Gute Lebensmittel haben ihren Preis. Die Hartz-IV-Sätze können wir nicht verändern, aber wir können den Anwohnern unser Know-How zum Thema Nahrungsmittel weitergeben. Denn oft fehlt es auch an Wissen, wie man mit wenig Geld gesund kochen kann.“ Gerade setzen sie deswegen  - finanziert durch private Spenden und Stiftungen - ein Modellprojekt um: Viertklässler:innen aus der Nachbarschaft kommen in die Halle, lernen die Produkte kennen, kochen zusammen, probieren sich im Lebensmittelhandwerk aus und besuchen Bauernhöfe.

Produktion vor Ort

Immer mehr Betriebe verkaufen nicht nur, sondern produzieren auch in der Markthalle Neun - oft einsehbar für die Besuchenden. Bei der Bäckerei Domberger Brotwerk greift gerade ein Mann hinter einer Glasscheibe tief in die riesige Teigschüssel. Bis zum Ellenbogen steckt er im Teig, dann teilt er ein Stück davon ab und wirft es schwungvoll in den dafür vorgesehen Behälter. „Das ist ein völlig autarker Kreislauf“, sagt Nikolaus Driessen. „Alles was sie verkaufen, wird hier vor Ort hergestellt.“

Besucher:innen der Markthalle. Credit: Markthalle Neun

Auch die Metzgerei „Kumpel und Keule“ produziert in der Halle. Links verkaufen sie Fleisch und Würstchen, rechts zerlegen und verarbeiten sie die Tiere. Damit will die Metzgerei wieder sichtbar machen, wie Fleisch hergestellt wird und dem Handwerk seine Würde zurückgeben. Die Produktion vor Ort hätte den Vorteil, dass die Händler flexibler arbeiten können, erklärt Nikolaus Driessen. Wenn wenig Kundschaft da sei, würden sie die Zeit nutzen und produzieren. Auch einen Lieferdienst gibt es mittlerweile in der Markthalle: Mit der „Plattform 2020“ wird die lokale Gastronomie mit Lebensmitteln der Betriebe beliefert. 

Zu ihrem zehnjährigen Jubiläum haben sich die drei Geschäftsführer nochmal intensiv mit der Geschichte der Markthalle Neun beschäftigt: „Je mehr Abstand man hat, desto unglaublicher ist, was hier passiert ist“, sagt Nikolaus Driessen. „Jeden Tag liest du in der Zeitung, dass wieder ein Laden zumacht. Überall - besonders im Lebensmittelbereich – verschwinden die kleinen Strukturen. Dass wir es geschafft haben, ist schon ein echtes Wunder.“ Für die Zukunft wollen sie erreichen, dass die Halle sich aus der unmittelbaren Nachbarschaft „ernähren“ kann und fest zum Alltag der Menschen im Kiez dazugehört. Mit Hilfe der Triodos Bank haben sie vor kurzem das Gelände nebenan erworben. Hier soll auf einer Freifläche noch mehr Platz für Logistik entstehen. Bisher hätten sie zum Beispiel keinen eigenen Lieferanteneingang, was sehr unpraktisch sei, erklärt der Geschäftsführer.

Gemeinsame Liebe zum Produkt

Während wir durch die Markthalle gehen, erzählt mir Nikolaus Driessen immer wieder die Geschichten hinter den Ständen und Menschen: Der italienische Bäcker hat ursprünglich Geschichte studiert und sich dann auf seine italienischen Wurzeln zurückbesonnen. Bei der Bäckerei Domberger Brotwerk arbeiten viele Geflüchtete, der Bierbrauer war früher Bildhauer. Auch das berufliche Know-How der drei Geschäftsführer ist bunt gemischt: Nikolaus Driessen hat Volkswirtschaft studiert und früher für die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung im Bereich Mikrokredite gearbeitet. Florian Niedermeier ist Fotograf und Kulturwissenschaftler, Bernd Maier gelernter Gartenbauer und war lange Projektmanager für IT. „Ich glaube die Kombination macht es, jeder bringt so seine Geschichte mit“, sagt Nikolaus Driessen.

Die Markthalle Neun ist ein kleiner Lebensmittel-Mikrokosmos, ein Netzwerk von Macherinnen und Machern, die die gemeinsame Liebe zum nachhaltigen Produkt verbindet. „Nach und nach hat sich hier ein gewisser Schlag Menschen eingefunden. Viele kommen deswegen sehr gerne hierher“, meint Nikolaus Driessen. Er ist sich nicht sicher, ob sich das Konzept der Markthalle Neun so einfach übertragen lässt, auch wenn sie immer wieder Anfragen von Kommunen erreichen, die ihre alte Markthalle beleben wollen. „Es wird hier ja keiner reich davon. Du brauchst auch eine Stadt wie Berlin, mit Menschen, die Lust haben, so zu produzieren. Diese Leute kann man sich nicht einfach backen.“