Inzwischen erkennt auch das Weltwirtschaftsforum WEF in Davos die Umweltzerstörung als größte Bedrohung der Weltwirtschaft. In seinen Risikoberichten nennt es Extremwetter, das Artensterben und die Erderwärmung als größte Gefahren für den Wohlstand. Den Wert von Waren und Dienstleistungen, die die Welt auf Grundlage gesunder Ökosysteme produziert, bezifferte das WEF 2020 auf jährlich 33 Billionen US-Dollar. Das entspricht der Wirtschaftsleistung der USA und Chinas zusammen.

Doch von den Betrieben verursachte Umweltschäden, Klimawandel und Ausbeutung tauchen in keiner Unternehmensbilanz auf. Ändern will das die Gemeinwohl-Ökonomie. Unternehmen, Städte und Gemeinden lassen sich von unabhängigen Auditoren nach 20 Gemeinwohl-Kriterien untersuchen und bewerten. Punkte gibt es für Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen, Mitarbeiterbeteiligung und andere Verbesserungen, die sonst in keiner Wirtschaftsbilanz erscheinen. Unternehmen, die wenig sogenannte externe Kosten verursachen, schneiden besser ab als die anderen.

In Ostwestfalen macht sich ein ganzer Landkreis auf den Weg in diese Gemeinwohl-Ökonomie: Der Kreis Höxter will erste Gemeinwohl Region Deutschlands werden. Das Städtchen Steinheim hat dort als erste deutsche Kommune eine Gemeinwohl-Bilanz nach dem Konzept des österreichischen Gelehrten Christian Felber und seiner Mitstreiter:innen erstellt. Jetzt entsteht in Steinheim das erste Gewerbezentrum für gemeinwohl-bilanzierte Unternehmen.

Eine Stadt für alle

Auf dem frisch gepflasterten Steinheimer Marktplatz zeigt Bürgermeister Carsten Torke die Schätze seiner 13.000-Seelen-Gemeinde: Das frisch renovierte Rathaus aus dem 19. Jahrhundert, die mächtige, fast schon großstädtisch wirkende Sankt Marienkirche. Der Stadtbrunnen erinnert an das einstige Wirtshaus „Kump“. Die Gaststätte ist längst verschwunden, ebenso die meisten Geschäfte, die einst das Zentrum des Städtchens belebten.

Statt leerstehende Läden in einer Abwärts-Spirale immer wieder an Billig-Ketten zu vermieten, hat die Stadt die Entwicklung selbst in die Hand genommen.

Freitag morgens um 10 Uhr stehen wir allein auf dem Marktplatz zwischen historischen Bruchsteinhäusern und Bausünden der 60er und 70er Jahre. Eine kleine Boutique ist noch da. Die anderen Läden haben aufgegeben. „Die Leute fahren in die beiden Einkaufszentren am Ortsrand“, berichtet Bürgermeister Torke. Der bodenständige CDU-Mann ist in Steinheim aufgewachsen. 

Statt leerstehende Läden in einer Abwärts-Spirale immer wieder an Billig-Ketten zu vermieten, hat die Stadt die Entwicklung selbst in die Hand genommen. Sie hat am Marktplatz ein Ensemble von sieben Gebäuden für rund 1,5 Millionen Euro gekauft, um es zum Mehrgenerationen-Haus umzubauen. „Wohnungen für Familien, Senioren, Singles und alle anderen, die in einer lebendigen Innenstadt leben wollen“, verspricht Torke und denkt an „Pärchen, die erstmals zusammenziehen“ ebenso wie an ältere Leute, die ihr zu groß gewordenes Haus verkaufen, um wieder – gut versorgt – im Ortszentrum zu wohnen. Im Erdgeschoss plant die Stadt zwei KiTas, eine Tagespflege für Senioren, Läden und Dienstleistungen.

Aus dem verbauten Gebäudekomplex hinter seiner dunklen 70er-Jahre-Fassade kommt gerade der städtische Wirtschaftsförderer Ralf Kleine mit drei Herren: Es sind Immobilienentwickler. Architekt Werner Niggemeier glaubt, dass das Mehrgenerationenhaus auch wirtschaftlich funktionieren kann. Städte und Gemeinden kämen anders als private Immobilienunternehmer leichter an öffentliche Fördermittel. Außerdem könne eine Stadt zum Beispiel über ihr Vorkaufsrecht Gebäude von mehreren Eigentümern erwerben. Damit umgehe sie das Problem, dass Nachbarn ihre Preise erhöhen, wenn zunächst nur ein Gebäude verkauft wird. Die Kommune könne außerdem – anders als ein privatwirtschaftlicher Investor- langfristiger planen und losgelöst von kurzfristigen Ertragserwartungen ein Gesamtkonzept durchsetzen.

Der städtische Wirtschaftsförderer Kleine nickt zustimmend. Er freut sich über das Interesse am zukünftigen Mehrgenerationenhaus. Eine Podologin, eine Ergotherapie und eine Physiotherapie möchten sich hier ansiedeln.

Gemeinwohl-Stadt

Das Quartier Am Kump ist ein Baustein der Gemeinwohl-Ökonomie, der sich die Stadt verpflichtet hat. Als erste Kommune in Deutschland hat Steinheim eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt: Unabhängige Auditoren untersuchen, was eine Kommune oder ein Unternehmen zum Gemeinwohl beiträgt. Die Kriterien: Gerechtigkeit, Menschenwürde, ökologische Nachhaltigkeit und Mitbestimmung. Punkte bekommt, wer wenig Ressourcen verbraucht, Rohstoffe wiederverwendet, Ökostrom nutzt, seinen Angestellten Dienstfahrräder anbietet oder die Mitarbeiter:innen an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Bewertet werden außerdem die Lieferkette, die Verteilung der Gewinne, regionale Wirtschaftskreisläufe und das Finanzwesen. Wer sein Geld bei einer nachhaltig wirtschaftenden Bank anlegt, bekommt auch dafür Punkte.

Gewertet werden die Leistungen der Stadt oder Gemeinde anhand einer Tabelle mit 25 Feldern, der sogenannten Matrix. Darin wird geprüft, wie das Unternehmen oder die Kommune mit den fünf Berührungsgruppen  Zulieferer, Finanz-Partner, Eigentümer, Mitarbeitende, Kund:innen und dem gesellschaftlichen Umfeld umgeht. Maßstab sind dabei die Grundwerte Menschenwürde, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und Transparenz. 

„Wir haben 5 Werte, 5 Berührungsgruppen“, erklärt Christian Einsiedel von der Stiftung Gemeinwohl-Ökonomie Nordrhein-Westfalen. „Daraus ergeben sich 25 Felder. Und wenn ich mir als Kommune jetzt in all diesen Feldern bestimmte Fragen stelle, dann kann ich mich hinterher selber erst einmal einstufen und kann sagen, so und so schätzen wir uns ein.“ 

Mindestens so wichtig wie die Bewertung ist der Bilanzierungsprozess: In jedem der 25 Felder werden die Verantwortlichen gefragt, was sie noch verbessern können. So entstehen, wie Christian Einsiedel sagt, „25 Innovations-Impulse. Vielleicht werden dann nicht alle umgesetzt, aber Fortschritt ist Fortschritt - und bei der nächsten Bilanz in zwei Jahren wird dieser wieder gemessen.“

Gemeinwohl-Bank

Die örtliche Volksbank lässt sich gerade bilanzieren. Prokurist Frank Golüke ist begeistert – zumindest auf die ostwestfälisch-zurückhaltende Art. Ihn beeindruckt, mit welchem Engagement seine Kolleginnen und Kollegen Daten zusammentragen und Ideen für Verbesserungen einbringen.

Die Volksbank gehört als Genossenschaft ihren Mitgliedern. In Vollversammlungen entscheiden diese über alle wesentlichen Fragen. Dafür gibt es schon einiges an Gemeinwohl-Punkten. Warum also nicht noch mehr fürs Gemeinwohl tun, dachten sich die Bankerinnen und Banker.

Herausgekommen ist zum Beispiel der Vorschlag, ein Konto für Nachhaltigkeit anzubieten. „Man könne doch“, erklärt Golüke auf seine abwägende, bedächtige Art, „Anlegern eine Garantie geben, dass wir mit den Einlagen nur Vorhaben finanzieren, die den Kriterien des Gemeinwohl-Gedankens entsprechen.“  So könnten die Kund:inn:en und Mitglieder „Einfluss nehmen, um die Welt etwas besser zu gestalten“.

ZINS: Zentrum für Innovation und Nachhaltigkeit

Investieren könnte man dieses Geld dann direkt in einem Gewerbegebiet am Steinheimer Stadtrand. Hier baut die Stiftung Gemeinwohl-Ökonomie NRW eine ehemalige Möbelfabrik zu Deutschlands erstem Gründerzentrum für gemeinwohl-bilanzierte Unternehmen um: dem ZINS, Zentrum für Innovation und Nachhaltigkeit Steinheim. Stiftungs-Vorstand Reinhard Raffenberg führt begeistert durch die hellen Räume. Die Fußböden sind frisch in Rot und Grün gestrichen. Das Dach wird begrünt. Die Außenhaut des Gebäudes bekommt eine Verkleidung aus norwegischem Hartholz aus „nachhaltiger Produktion“und eine Solarstrom-Anlage. 

Der Apotheker Albrecht Binder in der alten Möbelfabrik. Foto: Robert B. Fishman

Im August ziehen die ersten Nutzer ein: Die Firma MYCB1 des örtlichen Apothekers Albrecht Binder wird Extrakte aus medizinischem Cannabis produzieren. Mitgründer Binder hat das Fabrikgebäude aus seinem Vermögen der Stiftung überschrieben. 

Reinhard Raffenberg und seine Partnerin Camilla Pfaffhausen, die, bis 2020 im benachbarten Detmold ein vegetarisches Restaurant betrieben haben, startet jetzt mit ihrer Gründung „Prima-Klima-Food“. Das Unternehmen stellt  fleischlose Trocken-Lebensmittel aus Bio-Erbsen und -Ackerbohnen her. Ihr Unternehmen sehen sie auf einem guten Gemeinwohl-Weg. Die Rohstoffe beziehen sie aus der Region, „alles bio- zertifiziert.“ Mögliche Gewinne sollen im Unternehmen bleiben und reinvestiert werden. Die Stellen will Raffenberg „paritätisch mit Männern und Frauen“ besetzen.

Heimatapfel

Christoph Harrach, ebenfalls Mitarbeiter der Stiftung Gemeinwohl-Ökonomie NRW, sieht nachhaltig aufgestellte Unternehmen auch wirtschaftlich im Vorteil. Früher, sagt der studierte Betriebswirt und Marketing-Fachmann, sei Nachhaltigkeit vor allem ein Kostenfaktor gewesen. „Heute ist es ein Business-Case.“ Nachhaltig klima- und umweltfreundlich wirtschaftende Unternehmen fänden als „sinnstiftender“ Arbeitgeber leichter Fachkräfte, könnten diese besser im Betrieb halten und sähen heute schon die Kundenbedürfnisse von morgen. So sparten sie Kosten und könnten sich frühzeitig neue Absatzmärkte erschließen. Als Beispiel nennt Harrach einen Mineralbrunnen in der Nähe, dessen neues Produkt „Heimatschorle“ aus regionalem Bio-Apfelsaft und heimischem Mineralwasser sich „bestens“ verkaufe. Entstanden sei die Idee im Zuge der Gemeinwohl-Bilanzierung des Unternehmens.

Vorrang für Grundbedürfnisse

Wer mit seinen Produkten und Dienstleistungen Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt, bekommt zusätzliche Gemeinwohl-Punkte. Der Grund: Wirtschaft solle das liefern, was die Menschen wirklich brauchen, statt Ressourcen für künstlich geschaffene Bedürfnisse zu verschwenden. Dass die Grenzen zwischen Grundbedürfnis und Luxus fließend sind, gibt Christoph Harrach zu. Natürlich könne auch ein Hersteller von Luxusgütern Gemeinwohl-Punkte sammeln.

Möglich sind bis zu 1000 Punkte. Wer nur die gesetzlichen Mindeststandards bei Umweltschutz, Ressourcenschonung, fairen Löhnen, Lieferketten und Beteiligung der Mitarbeitenden, startet mit null Punkten. Der Bestwert liegt bisher bei gut 800. Die erste Bilanz, sagt Harrach, sei auch nur ein Einstieg in einen dauerhaften Verbesserungsprozess. In Steinheim haben sie schon mal angefangen.