Die Salzwasser-Lagune in Mar Menor ist das erste Ökosystem in Europa, das einen Personenstatus erhalten hat.  Warum war das notwendig?

Teresa VicenteEs gibt weltweit bereits Ökosysteme, die diesen Status als Rechtssubjekte haben. In Europa ist die Salzwasser-Lagune das erste mit diesem Status. Bisher besaßen nur Stiftungen, Unternehmen, Wirtschaftssubjekte oder Individuen Persönlichkeitsrechte. Nun aber hat auch die Natur Persönlichkeitsrechte. Das ist sehr wichtig, denn unser Planet ist in Gefahr und mit ihm die gesamte Menschheit. In vielen europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Dänemark, England, Schweden und Norwegen gibt es eine Bewegung, die für die Rechte der Natur kämpft. Das Ökosystem Mar Menor mit seinen eigenen Rechten hat dieser großen europäischen Bewegung Auftrieb gegeben und sie auf eine Stufe mit anderen Bewegungen auf anderen Kontinenten gestellt. Auf den beiden vorangegangenen UN-Klimakonferenzen, der COP in Madrid und der COP in Glasgow, hatte ich diese Idee vorgestellt. Vor kurzem konnte ich nun auf der COP 27 in Ägypten über unseren Erfolg sprechen. Die Rechte der Natur sind Realität geworden.

Es gibt bereits Gesetze zum Schutz der Umwelt. Im Dezember 2021 hat die EU-Kommission beispielsweise beschlossen, Spanien wegen der mangelhaften Umsetzung der Nitratrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen. Reichen Maßnahmen wie diese nicht aus?

Das Umweltschutzgesetz ist seit 40 Jahren in Kraft, der erste Klima-Gipfel fand in den 1970er Jahren statt. Seitdem ist es uns nicht gelungen, die Ökosysteme zu retten.  

Teresa Vicente
Teresa Vicente

Und wir gehen auf noch schlechtere Zeiten zu. Es geht nicht darum, dass die Gesetze nicht funktionieren, natürlich kann bestraft werden, wie es mit der Nitratrichtlinie geschehen ist. Aber für uns, für den Planeten, zählt nicht die Bestrafung, sondern dass die Ökosysteme sich erholen können. Das Modell des Umweltrechts erkennt nicht an, dass die Natur ein Rechtssubjekt ist, dass sie lebendig ist. So wird ihr Recht auf Leben verhindert. Wir haben nicht verstanden, was uns die Wissenschaft der Ökologie bereits im letzten Jahrhundert gesagt hat: Unser Leben hängt vom Leben des Ökosystems ab. 

Wie ist es der Bürgerinitiative gelungen, so viele Unterschriften zu sammeln?

Wir haben dies innerhalb eines Jahres getan, das ist die gesetzlich vorgeschriebene Frist. Das war mitten in der COVID-Pandemie: Wir konnten nicht auf die Straße gehen und die Menschen konnten auch nicht online unterschreiben. Jede Person musste einen eigenen Stift haben, um zu unterschreiben und ihre Daten einzutragen. Mit anderen Worten: Es war die schwierigste Unterschriftensammlung in derGeschichte der Demokratie. Und wir haben es nicht nur geschafft, 500.000 Unterschriften zu sammeln, sondern wir haben knapp 640.000Unterschriften in den Kongress mitgenommen.

Unser Leben hängt vom Leben des Ökosystems ab.
Teresa Vicente

Welche Änderungen erwarten Sie als Ergebnis des neuen Status von Mar Menor?

Immer dann, wenn eine neue Person oder Entität Rechte zugesprochen bekommt, verändert sich etwas. Rechte erlauben ihr nicht nur, sich zu entwickeln, sondern verbieten auch anderen, sie zu unterdrücken. Als damals die Frauen, Sklaven oder indigenen Völker Rechte erhalten haben, hat dies verhindert, dass sie von anderen als Objekt behandelt und in ihrer Entwicklung behindert werden konnten. Die soziale Gerechtigkeit ist der größte Fortschritt, den wir in der westlichen Welt haben. Aber sie hat es verpasst, anzuerkennen, dass der Mensch Teil der Natur ist und die Natur genauso viele Rechte haben muss wie der Mensch. Diese Entwicklung ist also ein Fortschritt, der zu mehr Gerechtigkeit führt. Die soziale Gerechtigkeit geht nun in eine ökologische Gerechtigkeit über. Diese schließt die soziale Gerechtigkeit mit ein, aber eben auch die Natur, die uns das Leben und die Entwicklung als Menschen ermöglicht hat.


Und wer kann nun die Rechte der Lagune vor Gericht vertreten?

Alle Personen.

Alle, die wollen?

Alle Menschen, die das wollen. Denn wir sind das Mar Menor und das Mar Menor sind wir. Um dies effektiver zu gestalten, gibt es drei Ausschüsse, die die offizielle Aufsicht über die Lagune ausüben. Einen wissenschaftlichen Ausschuss aus unabhängigen Expertinnen und Experten, die Indikatoren für den ökologischen Zustand der Lagune ermitteln und über Risiken und Wiederherstellungsmaßnahmen informieren. Dann gibt es den Repräsentantenausschuss, der sich aus Vertretern aus Staat, autonomen Gemeinden und der Stadtverwaltung zusammensetzt Er schlägt konkrete Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung und Pflege der Lagune vor und kontrolliert die Einhaltung ihrer Rechte. Die Überwachungskommission (die "Wächter", wie sie im Gesetz genannt werden), ist ein Komitee mit unterschiedlichsten Personen aus Gesellschaft, Recht, Wirtschaft und Kultur, die die Grundrechte der Lagune vertreten und auch die Einhaltung ihrer Rechte kontrollieren.

Was können solche Gesetze bewirken? Können sie wirklich die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt verändern?

Dies ist der entscheidende Punkt. Ein Beispiel wäre das heutige Frauenrecht: Als damals die ersten Gesetze erlassen wurden, die Frauen als Rechtspersönlichkeit anerkannten, gab es enormen Widerstand. Heute traut sich niemand mehr zu sagen, dass Frauen Objekte sind und keine Grundrechte hätten, egal welcher politischen Anschauung man ist. Im Laufe der Zeit hat das Gesetz also zu einem Mentalitätswandel geführt.


Den Mentalitätswandeln gab es aber nur, weil die Rechte von den Frauen immer wieder neu eingefordert wurden. Hat die Bürgerinitiative bereits konkrete rechtliche Schritte vorgesehen?

Rechtliche Schritte können jetzt eingeleitet werden, doch es dauert noch, bis die Entwicklung der Rechtsvorschriften abgeschlossen ist. Der Ministerrat bereitet derzeit die Verordnung zum geltenden Gesetz" vor. Das abzuwarten ist besser, auch wenn wir schon handeln könnten. Wir denken aber bereits darüber nach, der Europäischen Union in den kommenden Monaten einen Vorschlag für eine europäische Initiative vorzulegen, die die Anerkennung der Rechte aller Ökosysteme in Europa erleichtern soll, angefangen bei den am meisten gefährdeten. Diesmal wird es einfacher sein, denn in Europa gibt es bereits den Präzedenzfall und es wird möglich sein, Unterschriften online zu sammeln.

Was bedeutet der Fall Mar Menor für andere europäische Länder?

Für die anderen europäischen Länder, die unter dem Zusammenbruch ihres Ökosystems leiden, ist es wichtig zu wissen, dass in Europa ein legaler Weg eröffnet wurde, die Rechte der Natur zu schützen. Das Europa, das nicht zur Europäischen Union gehört, hat sich bereits mit uns in Verbindung gesetzt. Denn auch in Albanien und anderen Ländern gibt es eine Bewegung, die seit vielen Jahren für ihre Flüsse, Wälder und Ökosysteme kämpft. Dieser Präzedenzfall ist für alle, nicht nur für die Europäische Union, sondern für den gesamten europäischen Kontinent und die ganze Welt. Unser Erfolg macht den Kampf für alle einfacher.