Ihr Buch beginnt mit: „Ich weiß nicht mehr, wie der Moment aussah, in dem ich aufhörte, Nachrichten zu lesen. Ich weiß nur, dass (…) seit diesem Moment die Welt um mich begann, besser zu werden.“ Für eine Journalistin eine eher ungewöhnliche Aussage. Wie kam es dazu?

Ronja von Wurmb-Seibel: Es war ein Prozess, der mit meiner eigenen Berichterstattung anfing. Vor einigen Jahren habe ich als Journalistin in Afghanistan gelebt und aus Kabul berichtet. Immer wieder merkte ich, dass mir die Gespräche, die ich mit Menschen für meine Geschichten führte, zu schaffen machten. Also beschloss ich, meine Art der Berichterstattung zu ändern. Ich fragte mich: Wie kann ich neben den Problemen auch über Lösungen berichten und so eine andere Perspektive mitgeben? Das mache ich bis heute so.
In der Zeit als Trump Präsident wurde und die AfD das erste Mal in den Bundestag kam, merkte ich dann, wie mich mein eigener Nachrichtenkonsum richtig stark runterzog. Ich hatte nicht nur einfach schlechte Laune, ich sah gar nicht mehr, wo ich überhaupt noch etwas zur Veränderung beitragen konnte. Das war ein Punkt, an dem ich merkte: „So geht das nicht mehr weiter, ich will handlungsfähig bleiben. Ich hör jetzt einfach auf, klassische Nachrichten zu konsumieren.“ Ich informiere mich schon noch, klar, aber ich schaue keine Nachrichtensendung mehr, lese keine Zeitung und beim Radiohören schalte ich weg, wenn Nachrichten kommen. Dazu muss ich aber auch sagen: Ich bin Journalistin und habe viel Zeit, mich zu informieren, Sachbücher zu lesen, Dokumentarfilme zu schauen oder mit Betroffenen zu sprechen. Ich weiß schon, dass nicht alle die Zeit und auch nicht die Lust dazu haben.

Was empfehlen Sie Menschen, die gerne informiert bleiben möchten, gleichzeitig aber weniger negative News konsumieren möchten?

Ich empfehle nicht grundsätzlich, keine Nachrichten mehr zu schauen. Das ist mein Weg. Aber ich möchte ein Bewusstsein für die Fragen schaffen: Wieviel Nachrichten konsumiere ich? Und tut mir das gut? Viele konsumieren viel mehr Nachrichten, als es ihnen bewusst ist und merken nicht so genau, was das eigentlich mit ihnen macht. Den Leuten würde ich sagen: Testet es doch mal aus, schaut ein paar Tage, wie viele Nachrichten ihr konsumiert und wie ihr euch dabei fühlt. Es ist sehr individuell, wieviel Nachrichtenkonsum jeweils gut für uns ist. Wenn sich jemand dadurch sehr häufig überfordert, ohnmächtig oder zynisch fühlt, dann würde ich das als Anlass nehmen, den Konsum zu reduzieren.

Viele konsumieren viel mehr Nachrichten, als es ihnen bewusst ist und merken nicht so genau, was das eigentlich mit ihnen macht.
Ronja von Wurmb-Seibel

Sie beschreiben das Prinzip „Scheiße + X“, um zu erklären, wie wir an Probleme oder negative Nachrichten rangehen sollten. Was steckt dahinter?

Bei jedem Scheiß, der uns im Leben passiert oder den wir gesellschaftlich mitbekommen, können wir uns immer fragen: Was ist das X? Mit dem X meine ich: Was ist ein erster Schritt, den wir tun können, um da wieder rauszukommen? Das ist in den seltensten Fällen schon eine komplette Lösung. Bei Krieg zum Beispiel ist es sehr schwer, sofort eine Lösung zu bekommen. Aber Fragen wie „Was jetzt? Was können wir tun?“ sind schon mal der erste Schritt in die richtige Richtung und geben eine andere Perspektive. Denn wir Menschen können eigentlich gut mit Krisen umgehen. Mit einem Gefühl von Hilflosigkeit oder Kontrollverlust umzugehen, fällt uns viel schwerer. Nach konkreten ersten Schritten zu schauen, hilft uns, aus dieser Ohnmacht rauszukommen. Wir sind wieder handlungsfähig, können weitermachen und mit der Krise umgehen.

Wie können die Medien dieses Prinzip in ihre Berichterstattung einbinden?

Herkömmliche Nachrichten sind oft wie eine Art Fehlerbericht: Sie beschreiben nicht, was an einem Tag passiert ist, sondern sie beschreiben - mit ganz wenigen Ausnahmen - was schiefgegangen ist. Doch wir brauchen nicht nur Berichte darüber, was schiefläuft, wir brauchen auch eine Gebrauchsanleitung, damit wir verstehen, was wir besser machen können. So ist das X im Journalismus zu verstehen. Wir Journalist*innen können uns bei der Recherche zu einem Problem zum Beispiel fragen: Wie gehen andere Länder damit um, die es besser machen als wir? Wo sind Menschen, die sich schon lange für die Lösung eines bestimmten Problems einsetzen? Und dann berichten wir darüber.

Nach dem X zu suchen ist manchmal gar nicht so einfach. Wo ist es denn gerade im Krieg in der Ukraine zu finden?

Der pauschale Tipp ist: Guck erst mal, wie die Menschen mit diesem Unglück umgehen. Viele Menschen leisten gerade Hilfe. Nicht nur hier in Deutschland und Europa, indem sie bei sich Geflüchtete aufnehmen oder Solidarität zeigen, sondern auch in der Ukraine selbst. Dort gibt es immer noch Leute, die nicht fliehen, sondern als Ärztin, Hebamme oder Feuerwehr vor Ort sind und Menschen unterstützen. Manche sagen dann vielleicht: „Na gut, aber das ändert ja nichts, wenn wir darüber sprechen.“ Aber doch, es zeigt uns, dass auch in so einer Situation Menschen noch zusammenhalten. Das ist erst mal ermutigend.
Wir können auch nach Russland schauen und uns in Erinnerung rufen, dass dort immer noch Widerstand geleistet wird, obwohl Menschen dafür sehr schnell und lange verhaftet werden. Oder wir gucken uns die Länder an, die gerade versuchen, sich energieunabhängig von Russland zu machen und da vielleicht schon richtig gute und innovative Lösungen gefunden haben. Das alles führt niemals dazu, dass wir am Ende sagen: „Ah, dann ist der Krieg ja gar nicht so schlimm.“ Darum geht es nicht, der ist immer schlimm. Es geht wirklich nur darum zu sagen: „Okay, wir haben jetzt dieses furchtbare Problem. Wie können wir die Folgen davon ein bisschen abfedern? Wie können wir dazu beitragen, dass es ein bisschen weniger schlimm ist?“ Das gibt ganz viel Mut und auch Kraft, um weiterzumachen.

Als die Taliban letztes Jahr in Afghanistan die Macht übernahmen, sind Sie selbst aktiv geworden.

Das war eine sehr absurde Situation im letzten Herbst. Ich habe mein Buch fertig geschrieben und die Welt um mich ist sehr, sehr düster geworden. Viele der Menschen, die für und mit mir in Afghanistan gearbeitet haben, waren durch die Herrschaft der Taliban von einem Moment auf dem anderen stark gefährdet. Wir haben verzweifelt versucht, Evakuierungen möglich zu machen, Visa zu bekommen und Geld dorthin zu schicken.
In der Zeit habe ich fast selber schon nicht mehr an das, was ich sage, geglaubt und dachte: „Ich schreibe gerade ein Buch darüber, dass die Welt gar nicht so schlimm ist, wie wir denken, während sie gleichzeitig für mich so schlimm ist, wie noch nie zuvor.“ Beim Schreiben habe ich dann aber gemerkt: Nein, genau für solche Situationen ist das Buch. Für Situationen, in denen wir denken: Jetzt hilft nichts mehr. Um uns dann daran zu erinnern: Auch ich kann Dinge machen, die die Situation ein kleines bisschen weniger schlimm machen.
Ich bin aktiv geworden, aber nicht als Journalistin, sondern als Arbeitgeberin. Wir haben zum Beispiel eine Petition gestartet, die Zehntausende unterschrieben haben. Wir haben Spenden gesammelt für Vereine vor Ort. Nebenbei haben wir ganz viele Visa-Anträge gestellt für Menschen, die für uns gearbeitet haben und deshalb in Gefahr gekommen sind. Lange hatten wir das Gefühl: „Das bringt wahrscheinlich eh nichts, aber wenigstens machen wir etwas.“ Am Ende konnten ungefähr 15 Menschen und ihre Familien nach Deutschland ausreisen! Wir haben sogar Gastfamilien für sie gefunden, sie mussten keinen Tag im Camp verbringen. Das Beispiel zeigt: Manchmal muss man einfach auch durchhalten.

Ihr Buch stößt auf großes Interesse. Vorhin haben Sie mir erzählt, dass Sie seit dem Erscheinen über 150 Interviews gegeben haben. Wie sind die Reaktionen auf das Buch?

Ich bin selber durch viele Krisen in meinem Leben gegangen und kenne das Gefühl, wenn man sich so ganz allein fühlt und nicht weiß, wie man da wieder rauskommt. Mein Wunsch war, dass dieses Buch den Menschen, in Situationen wo sie überfordert sind, unter die Arme greift. Und genau das passiert auch, das ist total schön zu sehen. Ein Rechtsanwalt hat mir zum Beispiel geschrieben, dass er nun eine ganz neue Perspektive auf seinen Beruf bekommen hat. Eine Frau, die gerade zur Behandlung mit einer Chemotherapie im Krankenhaus war, schrieb, dass das Buch ihr Mut gegeben hat. Das berührt mich sehr.
Überraschend fand ich aber auch, dass die meisten Journalist*innen, denen ich Interviews zum Buch gegeben habe - die „Profis“ sozusagen - mir erzählt haben, dass sie gerade mit der Kriegssituation und dem starken Fokus auf die Kriegsberichterstattung überfordert sind. Sie können zu Hause nicht abschalten oder haben Albträume. Damit hatte ich nicht gerechnet. Gleichzeitig haben sie erzählt, dass viele in den Redaktionen angefangen haben, darüber zu reden und sich die Frage stellen: Wie können wir das besser machen? Weil es durch den Krieg so offensichtlich geworden ist, was die negative Berichterstattung mit uns macht.

Das macht Mut. Fangen die deutschen Medien bald an, konstruktiver und lösungsorientierter zu berichten?

In vielen Redaktionen beginnt gerade eine Debatte darüber, was die Nachrichten mit denen machen, die sie konsumieren. Wie wirken wir in die Gesellschaft rein? Vor kurzem hat sich in Bonn auch ein Institut für konstruktiven Journalismus gegründet, das Journalist*innen weiterbildet, in die Redaktionen geht und versucht, die Strukturen dort zu verändern. Es entstehen gerade auch neue, konstruktive Formate: Die Tagesschau zum Beispiel, die ja wirklich eine sehr traditionelle Nachrichtensendung ist, hat vor ein paar Wochen den konstruktiven News-Podcast „Ideenimport“ gestartet, in dem sie eigentlich genau das machen, was ich vorhin beschrieben habe. Sie schauen sich immer ein politisches Problem aus Deutschland an und berichten dann von den Lösungsansätzen in anderen Ländern. Gleichzeitig ist die Medienbranche in Deutschland eine eher behäbige Branche, mit sehr traditionellen Strukturen. Deswegen glaube ich nicht, dass sie sich schnell ändern wird. Aber ich glaube, da wurde eine Bewegung losgestoßen.

Das Buch

"Wie wir die Welt sehen Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien" ist im Kösel-Verlag erschienen. Mehr Informationen