In der Politik erleben wir mitunter Stümperei und einen Hang zur Kurzsichtigkeit. Noch fataler sind jedoch politische Inkompetenz und Klientelismus. Vor allem, wenn diese sich - beinahe unvermeidbar - in der Wirtschaftspolitik niederschlagen und mit völlig bizarren wirtschaftlichen Überlegungen einhergehen. Überlegungen, die letztlich zum finanziellen Kollaps führen. Willkommen im Vereinigten Königreich, in dem die Regierung 2022 einen Plan zur sogenannten Trickle-Down-Ökonomie vorlegte – der in den 1950er Jahren sinnvoll gewesen sein mag, aber heute völlig absurd ist. Der Plan samt seiner Initiatorin Liz Truss währte nur kurz – und doch viel zu lang, um nicht irreparable Schäden anzurichten. Wer also bis dahin dachte, es könne nicht schlimmer kommen, wurde schnell eines Besseren belehrt.
Was hinter Trickle-Down-Politik steckt? Die Vorstellung, dass man einfach den reichsten Teil der Bevölkerung noch reicher macht und dies dann automatisch zu mehr Wirtschaftswachstum führt – was am Ende allen Menschen zugutekommt und Ungleichheit verringert. Will heißen: Je mehr man die Spitze gießt, desto besser wird die ganze Pflanze gedeihen. Wow.
Unvergleichbare Zeiten und Voraussetzungen
Doch wie kommt man darauf? Die Idee der Trickle-Down-Ökonomie wurde bereits im Jahr 1955 von Simon Kuznets empirisch erforscht. Er entwickelte die sogenannte Kuznets-Kurve, die aufzeigt, dass hier zwar zunächst die Ungleichheit zunimmt, mit dem wachsenden Reichtum des Landes dann aber wieder abnimmt. Doch Kuznets selbst räumte ein, dass seine Untersuchungen und die damit einhergehenden Ergebnisse zu 5 Prozent auf empirischen Beobachtungen und zu 95 Prozent auf Spekulationen beruhten. Aha.
Dazu kommt, dass Kuznets seine Forschungen zu einer Zeit durchführte, in der die Ungleichheit bei den reichen Ländern auf einem historisch niedrigen Niveau lag und die Arbeitseinkommen sehr hoch besteuert wurden. Die Spitzeneinkommenssteuersätze im Vereinigten Königreich und in den USA etwa lagen bei über 90 Prozent. In dieser Zeit herrschten zugleich die "Trentes Glorieuses" in Frankreich und das Wirtschaftswunder in Deutschland – die Schlussfolgerung, dass mit diesem System die wirtschaftliche Gleichheit in den reicheren Ländern zunehmen musste, war also naheliegend.
Dies änderte sich jedoch Ende der 1970er Jahre radikal: Die Einkommensungleichheit nahm in vielen reichen Ländern zu. Zurückzuführen ist das unter anderem auf niedrigere Steuern sowie Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, einschließlich der verstärkt gelebten "Winner-takes-it-all-Mentalität" vieler Unternehmen. Und wo sollte hier der Trickle-Down sein? Während die Bäume immer höher wuchsen, wurde die Wirtschaft darunter zunehmend überschattet, bis sie verkümmerte.
Inzwischen wissen wir, dass es keine Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hat, wenn man die Reichen reicher macht. Und wir wissen auch, dass in den letzten 40 Jahren in den Vereinigten Staaten 50 Billionen Dollar umverteilt wurden – von 90 Prozent der Geringverdiener auf 1 Prozent der Reichsten.
Es gibt eine Grenze für "hilfreiche Ungleichheit". Liz Truss (oder zumindest der neue Schatzkanzler Hunt) hat dies auf Druck der Wähler und Märkte hin erkannt. Ein Teil des in ihrer kurzen Regentschaft entstandenen Schadens ist jedoch nicht mehr zu beheben. Dazu gehören unter anderem die Verluste für Rentner und Pensionäre. Dies beweist einmal mehr, dass Wirtschaftsforschung und -theorien oft für politische Zwecke missbraucht werden und schwerwiegende realwirtschaftliche Folgen nach sich ziehen können.
Doch wie sieht es mit der Sparpolitik in einer Bilanzrezession aus, wie sie in der Eurokrise Konsens war? Wie wäre es, Nachhaltigkeitseffekte einfach als "externe Effekte“ zu bezeichnen und die Preisgestaltung als einzige politische Option ins Feld zu führen? Und was ist mit der Flexibilität und Deregulierung der Märkte als Lösung für mehr Wachstum – ohne die Menschen zu vergessen, die mit Unsicherheit und geringfügigen Jobs allein gelassen werden, statt einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen?
Gegen Missbrauch helfen nur gesunder (wirtschaftlicher) Menschenverstand, Verständnis für den Zusammenhang von Ideologien und Instrumentarien sowie eine gehörige Portion historisches Wissen. Denn am Beispiel Liz Truss sehen wir: Es kann tatsächlich immer schlimmer kommen.
Vielen Dank für den Kommentar!
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