Die Arbeitswelt befindet sich in einer der größten Transformationen ihrer Geschichte. Alles wird flexibler, internationaler und digitaler. Unser Sozialsystem scheint mit diesen Umwälzungen nicht Schritt halten zu können. Nichts weniger als eine „Sozialrevolution“ fordern die Herausgeber Börries Hornemann und Armin Steuernagel in ihrem gleichnamigen Buch. Antworten wie diese Revolution aussehen könnte, liefern bekannte Denker wie Yanis Varoufakis, Gerald Hüther oder Andrew L. Stern und die Herausgeber selbst. Mit einem von ihnen haben wir gesprochen.
Börries, die „technologische Revolution gleicht einem Erdbeben, das die Fundamente unserer Lebens- und Arbeitswelt umwirft“, heißt es in eurem Buch. Unser Sozialsystem sei diesen Zeiten nicht gewachsen. Ohne Sozialrevolution führe die digitale Revolution ins Chaos. Warum?
Unsere jetzigen Sozialsysteme sind von Misstrauen geprägt. Dies führt dazu, dass immer mehr Kontrolle nötig wird, was wiederum das Misstrauen mehrt. Nehmen wir beispielsweise die Versicherungen: Ein Drittel ihrer Ausgaben fließt in Rechtsabteilungen, die damit beschäftigt sind, Versicherungsbetrug zu verhindern. Oder die Krankenkassen: Sie haben Abteilungen, deren Mitarbeiter ausschließlich damit beschäftigt sind, Anfragen z.B. für Kuren erst einmal abzulehnen. Dieses gegenseitige Misstrauen fördert den Betrug – dazu gibt es Studien. Dem Betrug wiederum wird mit mehr Kontrolle begegnet. Ein Teufelskreis. Als Folge steigen die Verwaltungskosten enorm. Auf Dauer ist das nicht zu finanzieren. Irgendwann kollabiert das System.
Kannst du ein Beispiel geben, warum die Kontrolle den Betrug steigert?
Andersherum lässt sich das gut beobachten, z.B. an den Steuern in der Schweiz. In einigen Kantonen können die Bürger abstimmen, wofür und in welcher Höhe die Steuern ausgegeben werden. In diesen Kantonen sinkt die Steuerkriminalität. Die Bürger betrügen nicht nur weniger, sondern zahlen sogar mehr Steuern. Ein gewisses Vertrauen und die Möglichkeit sich einzubringen scheinen sich also positiv auszuwirken.
Eine andere Dimension eurer Sozialrevolution ist die Digitalisierung. Wie wirkt sie sich auf die Sicherungssysteme aus?
Die digitale Entwicklung zeigt Möglichkeiten auf, wie unsere Sicherungssysteme anders gestaltet – und wie vor allem die Kontrollkosten sehr stark verringert werden könnten. Die Kontrolle kann künftig komplett digital abgewickelt werden, etwa mit Blockchain basierten Systemen. Dort braucht es keinen Mittler mehr, der Kontakt findet direkt zwischen dir und mir statt. Die Firma Teambrella aus Russland beispielsweise bietet eine der weltweit ersten auf der Blockchain basierenden Versicherungen an.
Du sprichst sogenannte Peer-to-Peer-Versicherungen an. Was ist mit ihnen möglich?
Peer-to-Peer heißt schlicht: Wir schließen uns zusammen in überschaubaren Gruppen, die groß genug sind, um anfallende Kosten zu decken und klein genug, um ohne Kontrolle auszukommen. Da gibt es schöne Beispiele, die heute schon hervorragend funktionieren. Aber wir stellen auch andere Ansätze vor, zum Beispiel Fureai Kippu aus Japan. Es heißt übersetzt „Ticket für gegenseitigen Kontakt“ und gibt eine tolle Antwort auf unsere flexible Welt. Wie kann ich meinen pflegebedürftigen Eltern helfen, ohne, dass ich in die Nachbarschaft ziehe oder eine Pflegekraft bezahle? Hier in Deutschland ist dies fast unmöglich, in Japan nicht. Denn Fureai Kippu funktioniert mit Zeit als Währung. Das geht so: Ich investiere Zeit und kümmere mich um einen anderen Menschen in meiner Nähe. Die investierte Zeit wird mir gutgeschrieben; ich kann sie entweder selbst im Alter in Anspruch nehmen oder weitergeben – zum Beispiel an meine Eltern.
Zeit ist eine inflationssichere Währung, das hat einen enormen Reiz! Zeit ist die viel wichtigere Ressource und Währung als Geld. Geld schwankt und die Zeit ist für alle gleich.
Peer-to-Peer-Ansätze könnten deiner Meinung nach auch besonders für Frauen interessant sein…
… Durchaus. Die Altersvorsorge von Frauen in Deutschland ist ein Armutszeugnis, gelinde gesagt eine Katastrophe. Alle bezahlte Arbeit wird mit Altersvorsorge honoriert und alle unbezahlte – wie Pflege- oder Erziehungsarbeit – nicht. Es ist ja immer noch so, dass Frauen dort viel mehr leisten als Männer. Hinzu kommt die Bezahlung von Frauen, die auch bei gleicher Arbeit oft unter der von Männern liegt. Wir haben also ein massives Problem mit der Altersvorsorge von Frauen.
Wie können wir das ändern?
Solange wir als Gesamtgesellschaft keine Lösung dafür finden – und danach sieht es leider aus – müssen sich wohl erst einmal die Frauen zusammentun. Ich kann mir hier ein Prinzip ähnlich der niederländischen Broodfonds vorstellen. Die Broodfonds sind eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung für Selbstständige.
Wie funktionieren die Broodfonds?
Broodfonds sind gemeinnützige Vereine, die in der Regel 20 bis 50 Mitglieder haben. Jedes Mitglied zahlt zwischen 33 und 112 Euro pro Monat und erhält im längeren Krankheitsfall Krankengeld in der Höhe von 750 bis 2500 Euro. Besonders daran ist die regionale Verankerung der Gruppen; neue Mitglieder müssen von den anderen akzeptiert werden. Dadurch entsteht ein enger Zusammenhalt und Vertrauen. Das mindert Missbrauch und Zahlungsausfall. Die in Selbstmanagement geführten Gruppen wachsen rasant – mittlerweile gibt es 230 regionale Gruppen mit über 10.000 Mitgliedern in den Niederlanden. Wenn ein Mitglied seinen Vertrag kündigt, kann es die unverbrauchten Ersparnisse wieder mitnehmen – ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber klassischen Versicherungen. Zudem ist die Organisation durch das selbstständige Management der Gruppen äußerst schlank und kostengünstig.
Die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen nimmt an Fahrt auf. Auch in eurem Buch bringt ihr Vorschläge. Kann ein solches Grundeinkommen eine Antwort auf die Probleme unserer Sozialsysteme sein?
Eines ist für mich glasklar: Die Entscheidungsgrundlage wäre für alle Menschen eine bessere, wenn sie nicht ständig ihre ökonomische Lage mitberücksichtigen müssten. Wenn ich beispielsweise wegen eines Jobs irgendwo hinziehen muss, wo ich nicht leben will, dann hat dies die Konsequenz, dass ich auch in dem Job nicht so gut bin. Ich mache ihn hauptsächlich nur wegen des Geldes. Anders formuliert: Wenn ich Schmerzensgeld dafür bekomme, dass ich eine Arbeit mache, ist das keine gute Grundlage für die Qualität meiner Arbeit.
Der Züricher Ökonom Bruno Frey hat dazu geforscht, welche Anreize eine positive Auswirkung auf die Arbeit haben. Geld schneidet nicht gut ab. Eigentlich gibt es nur eine langfristig erfolgreiche Motivation und die ist intrinsisch. Diese Motivation könnte mit einem Grundeinkommen zunehmen.
Du hast die Kampagne für ein Grundeinkommen in der Schweiz mitorganisiert. Aus deiner Expertensicht, kommt ein Grundeinkommen in unseren Gesellschaften?
Für mich ist klar, dass das Grundeinkommen kommen wird. Die Frage ist nur, kommt es als eine 400-Euro-Variante, quasi als ein Hartz IV für alle, oder kommt es auf einer anderen Ebene und ändert damit die Gesellschaft grundlegend. Letzteres würde bedeuten, dass ich es mir leisten kann, zu etwas nein zu sagen. Das ist auch die Position, die Yanis Varoufakis in unserem Buch vertritt. Freiheit ist demnach nicht zu allem ja, sondern auch zu etwas nein sagen zu können. Durch ein Grundeinkommen kann ich nicht mehr gezwungen werden etwas zu tun, sondern ich kann auf Augenhöhe entscheiden. Das entfesselt Kräfte, weil ich schlicht besser bin in dem, was ich wirklich tun möchte. Davon profitiert am Ende gerade auch die Wirtschaft.
Varoufakis sieht in einem Grundeinkommen ein Menschenrecht. Wie ist das zu verstehen?
Eine Gegenfrage: Was steckt beispielsweise in einem iPhone?
Ziemlich viel Technik…
…genau. Allerdings Technik, die mit Hilfe von Steuergeldern entwickelt wurde. Es sind militärische oder von Universitäten kommende Entwicklungen. Die Gewinne werden aber nicht wieder sozialisiert. Das ist der eigentliche Skandal. Die Gewinne werden privatisiert und landen bei der Firma, in diesem Fall bei Apple. Eigentlich ist klar, das Geld gehört der Gesellschaft – und damit auch dir – es wird aber veruntreut. Die Steuern refinanzieren niemals das, was an Entwicklung in einem Produkt steckt. Adidas baut gerade ein vollautomatisches Werk in Deutschland, das fast ohne Menschen auskommt. Wer finanziert die Forschung, die darin steckt? Wir, mit unseren Steuergeldern. Wir zahlen Millionen, damit Adidas am Ende Schuhe ohne menschliche Arbeit produzieren kann. Deswegen braucht es dringend neue Ideen. Eine Sozialrevolution!
Porträt Börries Hornemann: Eva Stuker
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